Karlsruher Gespräche 2016

Türkei auf der Suche nach sich selbst

 

Ece Temelkuran

Referentin

© Mehmet Turgut
Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen und politischen Kommentatorinnen der Türkei. Sie hat in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas gelebt, u. a. im Libanon und in Tunesien, und hat mehrere Romane geschrieben, die in der jeweiligen Region spielen.

Als investigative Journalistin befasst sie sich mit Themen, die in der Türkei höchst umstritten sind, z. B. mit Problemen der Kurden und der Armenier oder mit der Meinungsfreiheit. Ihre Artikel sind in zahlreichen Zeitungen und Magazinen erschienen, so im Guardian, im New Statesman, der New Left Review und Le Monde Diplomatique, und sie hat zahlreiche Preise erhalten. Sie wurde mehrfach als am meisten gelesene Schriftstellerin der Türkei und als eine der einflussreichsten Personen in den Social Media ausgezeichnet. Temelkuran war als Visiting Fellow im St. Anthonyʼs College der University of Oxford tätig und hielt im Dezember 2015 als Gast von Amnesty International und der Prinz-Claus-Stiftung die Freedom Lecture. Ihre Romane wurden in diverse Sprachen übersetzt und in vielen Ländern der Welt veröffentlicht.

 

Statements

 

1. Welche Werte halten für Sie die Europäische Union zusammen? Wie kann eine gemeinschaftliche europäische Identität zukünftig besser vermittelt werden?

Ich glaube, dass liberté, égalité, fraternité die zentralen Werte Europas sind, auch wenn die Menschen in Europa auf einen ‚Winter der Unzufriedenheit‘ zuzusteuern scheinen. Eine Journalistin an der ungarischen Grenze, die ein Flüchtlingskind tritt, ist schon ein eindringliches Bild; ich möchte mich eher auf die Tatsache berufen, dass die Völker Europas den Kriegsopfern ganz aktiv und stimmgewaltig ihre fraternité bewiesen haben. Im Moment erinnert mich Europa an ein Gedicht von Lucebert, in dem es heißt: „Alles von Wert ist wehrlos.“ Wird das fragile Konzept Europa in der Lage sein, sich vor dem nahenden ‚Winter der Unzufriedenheit‘ zu schützen oder nicht? Das scheint mir die zentrale Frage zu sein. Obwohl dies vordergründig vor allem eine Frage der Sicherheit zu sein scheint, ist es doch eigentlich eine ganz philosophische Frage und bedarf auch einer entsprechenden Antwort.

 

2. Sind andere Modelle – wie etwa ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder eine Europäische Föderation der Regionen – vorstellbar?

Ich würde ein anderes Konzept vorschlagen wollen, das ich „Andalusien reloaded“ nenne. Die Einzelheiten möchte ich mir allerdings gerne für das Meeting aufsparen.

 

3. Halten Sie die derzeitigen nationalistischen Bestrebungen für ein sich aus den Krisen ergebendes kurzfristiges Phänomen oder für den Beginn einer langfristigen Entwicklung?

Die nationalistischen Reaktionen sind alles andere als kurzfristig, aber das bedeutet nicht, dass man sie nicht mehr aufhalten kann – im Gegenteil.