Karlsruher Gespräche 2012

„Alles in (Un-)Ordnung? Neue Unübersichtlichkeiten in einer globalisierten Welt“

Nuran David Calis

Referent

 

Zygmunt Bauman

 

Nuran David Calis, Jahrgang 1976, wurde als Sohn armenisch-jüdischer Einwanderer aus der Türkei in Bielefeld geboren. Von 1996 bis 2000 studierte er Regie an der Otto-Falckenberg-Schule München. Während dieser Zeit assistierte er an den Münchner Kammerspielen und am Zürcher Schauspielhaus. 2003 wurde sein erstes Theaterstück Dog Eat Dog - Raus aus Baumheide bei den Autorentheatertagen am Thalia Theater Hamburg uraufgeführt. Seitdem inszeniert er regelmäßig seine eigenen Theatertexte: urbanstories (schauspielhannover), Homestories - Geschichten aus der Heimat, Café Europa (am Schauspiel Essen), Schwarz und Einer von uns (Thalia Theater Hamburg), ebenso am schauspielhannover (Frühlings Erwachen, Kabale und Liebe) und am Volkstheater Wien (Die Räuber, Macbeth). 2006 erhielt Calis den Bayerischen Kunstförderpreis, wurde im gleichen Jahr für seine Inszenierung von Schillers Die Räuber am Volkstheater Wien als "Bester Nachwuchsregisseur" mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet und bekam für die Produktion Homestories am Essener Schauspiel den "Bundespreis Soziale Stadt". Neben dem Theater führte Calis bei seinem ersten Kino-Langfilm Regie, der 2007 unter dem Titel Meine Mutter, mein Bruder und ich! in die Kinos kam. 2010 folgte die Verfilmung von Wedekinds "Frühlings Erwachen", eine Produktion von ZDF, ARTE und 3sat. 2011 erschien sein autobiographisch gefärbter Roman „Der Mond ist unsere Sonne“.

 

Das ZAK bat Nuran David Calis, folgende Fragen zu beantworten:


1. Ist unser Bedürfnis nach Sicherheit gewachsen oder hat sich lediglich unsere Wahrnehmung von Unsicherheit verändert?

Wir leben in zutiefst unsicheren Zeiten, um uns herum fliegt die Welt auseinander und diese Entwicklungen werden auch uns beeinflussen. Die Jugendlichen werden auf die Straße gehen, weil es in Zukunft keinen Ort mehr geben wird, wo sich gesellschaftliches Leben abspielen könnte, wo Ideen, wo Visionen, wo Utopien, entwickelt und entstehen könnten. Nein, die Menschen treibt es auf die Straße, und dort nehmen die Dynamiken ihren Lauf. Die Straße, der Asphalt entwickelt seine eigenen Mittel und Gesetze, sich Gehör zu verschaffen, dann wird das Buch gegen einen Molotowcocktail ausgetauscht.


2. Inwiefern nehmen Interdependenzen zwischen einzelnen Risiken zu? Ist ein Dominoeffekt erkennbar?

Das Kleinste hängt mit den Größten zusammen und umgekehrt. Wenn das Jugendzentrum in Essen-Karternberg geschlossen wird, oder die dortige Bibliothek oder das Schwimmbad oder die Schule, dann brauche ich mich als Gesellschaft nicht wundern, wenn die Jugendlichen dieses Viertels Autoreifen dort anzünden. Diese jungen Menschen sind nicht auf die Welt gekommen und haben es nicht vom ersten Atemzug in ihrem Leben an darauf abgesehen, Autorreifen in ihrem Viertel anzuzünden. Das Anzünden ist der Schlusspunkt von einem Traum, den sie vielleicht einmal vom Leben hatten, aber welchen die Gesellschaft, also wir, in einen Alptraum verwandelt hat. Du wirst eher von einem Blitz getroffen, als dass du es aus diesen Peripherien herausschaffst.


3. Sollten angesichts der derzeitigen Krisenlage mehr Entscheidungskompetenzen auf die europäischen Institutionen/Organe verlagert werden?

Es gibt keinen anderen Weg. Die einzige Lösung ist, die nationalstaatlichen Strukturen zu durchbrechen. Der europäische Gründungsmythos muss im Vordergrund stehen, aus diesem heraus müssen sich neue Strukturen finden.