Karlsruher Gespräche 2013

Die ‚Zwischengesellschaft‘: Tradition und Moderne im Widerspruch

Prof. Dr. Roland Robertson

Referent

Robertson

Prof. Dr. Roland Robertson ist Distinguished Service Professor Emeritus der Soziologie an der University of Pittsburgh, Professor Emeritus der Soziologie und Weltgesellschaft an der University of Aberdeen und Distinguished Guest Professor der Kulturwissenschaft an der Tsinghua-Universität in Beijing, China. Zuvor war er an den Universitäten Leeds, Essex und York tätig.

Als Gastdozent war er unter anderem in Schweden, den USA, Österreich, Italien, Hong Kong, Thailand, Japan, Brasilien und der Türkei angestellt. Seine vielen Veröffentlichungen beinhalten unter anderem: The Sociological Interpretation of Religion (1970), International Systems and the Modernization of Society (1968) und Identity and Authority (1980). Noch zu erscheinende Bücher beinhalten European Globalization in Global Context, Religion and Culture: The Western Standpoint (Eine Sammlung bereits veröffentlichter Essays, auf Chinesisch) und Global Connectivity and Global Consciousness.

Robertson veröffentlichte viele Artikel zu Themen wie Religion, soziale und kulturelle Theorie, Globalisierung und internationale Beziehungen, Sport sowie soziale Stratifikation. Seine Publikationen wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt und er war weltweit als Redner eingeladen.

Robertson erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen und ist Mitglied in den redaktionellen Beiräten zahlreicher internationaler Zeitschriften. Derzeit beschäftigt sich Robertson mit Globalität und Lokalität, der Beziehung zwischen globaler und kosmologischer Wissenschaft, Antisemitismus, Soziologie und dem Konzept von Zivilisation, der Weltordnung und der sich verändernden Beschaffenheit von Staaten und Nationen.

 

Das ZAK bat Prof. Dr. Roland Robertson folgende Fragen zu beantworten:

1.    Bewahrung im Wandel: Was heißt dies aus Ihrer Sicht vor dem Hintergrund von Prozessen der Globalisierung und Glokalisierung?

Globalisierung fördert Bewahrung und Wandel gleichermaßen. Globalisierung bringt Gesellschaften dazu, ihre tiefen historischen Ursprünge und ihre globale Bedeutung zu verkünden. Aktuelle Beispiele sind etwa China, der Iran, die USA und zahlreiche andere – auch wenn in solchen Fällen oftmals ein innerer Konflikt darüber vorliegt, worin die Identität der Gesellschaft besteht. Tatsächlich ist es die Globalisierung in Form der ‚Glokalisierung‘, die den wichtigsten Hinweis zu diesem Phänomen liefert.


2.    Was führt eine Gesellschaft angesichts wachsender Orientierungslosigkeit im Zeitalter der Globalisierung zusammen und was treibt sie auseinander?

Sofern Gesellschaften ein Mindestmaß an Zusammenhalt aufrechterhalten, geschieht das hauptsächlich durch die (höchst umstrittene) Suche nach – oder die Erfindung von – lokaler Tradition und Identität. Außerdem gibt es eine starke autoritäre, sogar theokratische, Tendenz in fast allen Gesellschaften der heutigen Welt. Möglicherweise ist es diese autoritäre Tendenz, die den wichtigsten Aspekt der heutigen Formen von ‚Zusammenhalt‘ darstellt. Auf der anderen Seite werden Gesellschaften durch diasporische Bewegungen, vielfache nationale Zugehörigkeiten, Multikulturalismus sowie innergesellschaftliche Kulturkonflikte auseinandergetrieben, und außerdem immer stärker von tiefgehenden Cyberangriffen bedroht. Tatsächlich ist es ein bedeutender Aspekt der heutigen Welt, dass fast alle Gesellschaften zunehmend von großen soziokulturellen Spaltungen durchzogen sind, wofür der Kulturkampf im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts das beste historische Beispiel darstellt. Das aktuellste Beispiel hierfür sind die großen und wachsenden Spannungen zwischen der ‚Linken‘ und der ‚Rechten‘ in den USA. Dennoch bin ich der Meinung, dass die USA in dieser Hinsicht nur die Spitze eines globalen Eisbergs darstellt. In diesem Zusammenhang kommt das Thema der reflexiven, sich stets verändernden nationalen Identitäten hinzu. Die Kehrseite der autoritären Tendenz ist die auffällige Passivität der Bevölkerung, die augenscheinlich das Ende der Demokratie, so wie wir sie kennen, verkündet, auch wenn es bedeutsame Signale der Re-Demokratisierung gibt. Ein Beispiel für Letzteres ist der Widerstand der Frauen in Indien gegen ihre derzeitige Situation, ein Widerstand, der zunehmend weltweite Unterstützung gewinnt. Es ließen sich noch weitere Beispiele anführen, wie ‚Occupy‘ und ähnliche Bewegungen.


3.    Unsere Gesellschaft steht zwischen tradierten Wertvorstellungen und lokalen Alltagsroutinen einerseits und sich schnell wandelnden Einstellungen und Verhaltensweisen andererseits.
Welche Rolle spielen Frauen in diesen zivilgesellschaftlichen Veränderungsprozessen?

Angesichts des bereits Gesagten ist die Situation von Frauen in den derzeitigen globalen Umständen recht offensichtlich (und kann sehr wohl als Gegenbeispiel zu meiner Behauptung gesehen werden, derzeitige Gesellschaften seien von der Passivität ihrer Bevölkerungen geprägt). Das beste Beispiel für diese momentan besonders auffällige Entwicklung – die nicht nur für die Frauen selbst bedeutsam ist – stellt wie gesagt Indien dar. Meiner Ansicht nach könnte sich die ‚Revolte‘ der Frauen in Indien – trotz ihres Bezugs zum Kastensystem und zu der seit Langem bestehenden Höherschätzung der Männer auf diesem Kontinent – sehr wohl als weit wichtiger herausstellen als der sogenannte Arabische Frühling. Tatsächlich wird sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den arabischen Fall in sich zusammenfassen. Mit anderen Worten, im Fall der Frauen – in besonderem Maße derzeit in Indien – finden wir die Koexistenz des sehr Traditionellen und des Hypermodernen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das starke Hervortreten der Jugend. Die große Bedeutung der Jugend in Widerstandsbewegungen und Revolten ist natürlich sehr ‚traditionell‘. (Selbstverständlich kann die Jugend auch recht einfach ausgenutzt und zur Rebellion genötigt werden, wie derzeit die Handlungen der jungen Menschen in Nordirland zeigen, die von den Medien häufig als ‚Freizeitgewalt’ beschrieben werden.)