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Ringvorlesung: Nachhaltig in die Katastrophe – Historische Perspektiven auf aktuelle Umweltdebatten

Verstellt uns der Fokus auf einen beliebig gewordenen Nachhaltigkeitsbegriff im Kleinen den Blick auf größere Zusammenhänge? Was können wir aus der Geschichte über die Klimakatastrophe lernen? Was haben Ernährung, Wachstum und Ungleichheit historisch damit zu tun? Und wie hat sich unser Sprechen darüber verändert?

Mit drei thematischen Schwerpunkten greift die Vorlesungsreihe aktuelle Debatten zu Nachhaltigkeit, Umwelt und Klima auf und erweitert diese um historische Perspektiven. Expertinnen und Experten betrachten Themen wie Nahrungsmittelproduktion, Ökonomie oder Ungleichheit. Die Veranstaltung soll aufzeigen, wie eine historische Betrachtungsweise den Blick auf aktuelle Debatten um Klima und Umwelt bereichern kann.

Die Ringvorlesung folgt auf die Vorlesungsreihe zum Club of Rome-Bericht, die von Studierenden des Departments für Geschichte in Zusammenarbeit mit dem ZAK im Wintersemester 2021/22 organisiert und die mit dem Lehrpreis der Fakultät 2022 prämiert wurde.

Die Reihe beginnt am Dienstag, 24. Oktober 2023 um 18.30 Uhr im NTI-Hörsaal mit einer Einführungsvorlesung zum Thema “Politikgeschichte, Komplexität und historische Perspektiven auf Nachhaltigkeit ” von Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze, Department für Geschichte am KIT.

Alle Interessierten sind herzlich eingeladen! Bitte beachten Sie, dass bei großem Interesse Studierende bevorzugt teilnehmen dürfen.

Die Vorträge werden per Livestream übertragen:
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Programmüberblick

Einführung: Politikgeschichte, Komplexität und historische Perspektiven auf Nachhaltigkeit: Über die Notwendigkeit eines Verfassungsprozesses für das Anthropozän
Dienstag, 24. Oktober 2023, 18.30 Uhr, NTI Hörsaal, Geb. 30.10, Engesserstraße 5

Porträtfoto Kunze

 

 

Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze (KIT)
Historiker und Professor für Neuere und neueste Geschichte am KIT


Abstract

Über ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen des Club of Rome-Berichts über die Grenzen des Wachstums 1972 hat der zeitgeschichtliche Rückblick auf das Auseinanderfallen von Diagnose und Problemlösungsintensität etwas geradezu Obszönes. Auch wenn ein direktes Lernen aus der Geschichte niemals möglich ist, kann die politische Geschichte ähnlich wie der Club of Rome-Bericht von 1972 eine Reihe von szenarischen Wenn-Dann-Sätzen formulieren, die funktionierende politische Lösungen der Vergangenheit vorstellen. Den Rahmen dafür bietet der neue Begriff des Anthropozän, der unser Erdzeitalter als das erste vom Menschen gemachte und zu verantwortende benennt. Die Einführung plädiert vor diesem Hintergrund für einen globalen, zumindest aber supranationalen Verfassungsgebungsprozess, in dem die Reaktion auf die Folgeprobleme des Anthropozän verbindlichen Verfassungs- oder völkerrechtlichen Vereinbarungscharakter erhält. Die demokratische Akzeptanz, die Krise der Demokratie und der Zeitfaktor erschweren diesen Prozess. Das ändert nichts daran, dass die politische Lösung von Menschheitsproblemen möglich ist, wenn sie denn versucht wird.

 
Die Entwicklung von Nahrungsregimen und deren Umweltfolgen seit 1870

Dienstag, 7. November 2023, 15.45-17.15 Uhr, R 231, Geb. 11.40

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Langthaler

 

Fridolin Krausmann

Prof. Dr. Ernst Langthaler
Historiker und Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte; Johannes Kepler Universität Linz

Prof. Dr. Fridolin Krausmann
Professor für Nachhaltige Ressourcennutzung; Universität für Bodenkultur Wien


Abstract

Das Konzept der Nahrungsregime (food regimes) hat sich in sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Landwirtschaft und Ernährung weithin verbreitet. Es leitet uns an, Ungleichheit und Macht im globalisierten Kapitalismus seit etwa 1870 zusammenzudenken. Es hat aber auch einige Kritik provoziert. Vor diesem Hintergrund erweitern wir das Konzept um den Stoffwechsel zwischen Gesellschaft und Natur und untersuchen es an Agrarhandel und Agrarproduktion. Dabei liegt unser Augenmerk auf dem Zusammenhang von transregionalen Handelsmustern und regionaler Landnutzung am Beispiel von Getreide, Ölfrüchten und Fleisch. Wir erkennen Phasen beschleunigten Wachstums im Wechsel mit Phasen relativer Stagnation. Anstelle zielgerichteter „Modernisierung“ beobachten wir Verschiebungen in den Wohlstands-, Macht- und Naturverhältnissen zwischen wechselnden Zentren und Peripherien in Nord und Süd. Expansionen, Krisen und Übergänge von Nahrungsregimen prägen auch den Umgang mit natürlichen Ressourcen. Die historische Perspektive liefert eine Reflexionsbasis für die aktuelle Debatte um eine sozialökologische Transformation von Landwirtschaft und Ernährung.

 
Das nützliche Tier in der Industriemoderne. Perspektiven für die Environmental Humanities

Dienstag, 21. November 2023, 15.45-17.15 Uhr, R 231, Geb. 11.40

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Porträtfoto Hürlimann

Prof. Dr. Gisela Hürlimann
Professorin für Technik- und Wirtschaftsgeschichte; Technische Universität Dresden


Abstract

«Ernährungswende», Umbau der Tierhaltung oder der Ausstieg daraus: So und ähnlich lauten aktuelle Forderungen und Szenarien hinsichtlich der deutschen Landwirtschaft. Ein Ende der Nutztierhaltung wie wir sie kennen scheint heute mindestens denkbar zu sein. Dabei werden auch Begründungszusammenhänge mit «globalem» Geltungsanspruch wie Klimaschutz und Nachhaltigkeit vorgebracht. Gleichzeitig wachsen Tierproduktion, Fleisch- und Milchkonsum im globalen Süden und Osten. Die Gründe sind strukturell vergleichbar der mit der historisch singulären Zunahme in der Haltung und dem Konsum von Schweinen, Rindern oder Geflügel, aber auch von Pferden als Zug- und Arbeitstiere, im 19. und 20. Jahrhundert in unseren Breitengraden. Denn Industrialisierung, Verwissenschaftlichung und Technisierung waren historisch eng an tierliche Leistungen sowie an sich wandelnde Mensch-Tier-Beziehungen gekoppelt.

 

 
 
Fossile Moderne. Eine Naturgeschichte der Gegenwart

Dienstag, 5. Dezember 2023, 15.45-17.15 Uhr, R 231, Geb. 11.40

Leider muss der Vortrag am Dienstag, 5. Dezember 2023, von Dr. Andreas Folkers krankheitsbedingt ausfallen. Wir bitten um Ihr Verständnis!
Porträtfoto Volkers

Dr. Andreas Folkers
Postdoktorand am Institut für Soziologie, Justus-Liebig-Universität Giessen


Abstract

Fossile Brennstoffe sind Schlüsselressourcen der modernen Gesellschaft. Als Energiequellen sowie als Rohstoffe für Düngemittel, Pestizide und Kunststoffe ermöglichten sie ein bisher unbekanntes Wirtschaftswachstum, schufen neue Mobilitätsmuster und eine neue Konsumkultur. Sie haben neue Formen des Regierens und des Wirtschaftslebens hervorgebracht. Die extensive Nutzung fossiler Ressourcen hat allerdings auch zu einer Reihe ökologischer Schäden wie Bodendegradation, der Vergiftung von Organismen und Ökosystemen, der Anhäufung von Plastikmüll und dem Klimawandel beigetragen. Angesichts der vielen "dunklen Seiten der westlichen Moderne" (Mingolo), von denen die ökologische Zerstörung nur eine ist, ist es sicherlich verlockend, sich von der Moderne zu verabschieden oder sogar zu erklären, dass "wir nie modern gewesen sind" (Latour). Doch diese Reaktion greift zu kurz, weil sich die langlebigen Überreste der fossilen Moderne übersieht. Der Vortrag skizziert, wie sich der Aufstieg, der Niedergang und das Nachleben der fossilen Moderne konzeptualisieren lässt.

 

 

 

Vergesst Malthus! Über Geschichte und Gegenwart der Welternährung

Dienstag, 19. Dezember 2023, 15.45-17.15 Uhr, R 231, Geb. 11.40

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Porträtfoto Uekötter

Prof. Dr. Frank Uekötter
Historiker und Professor für Umwelt- und Landwirtschaftsgeschichte, Universität Bochum


Abstract

Die Angst vor dem massenhaften Hunger gehört zu den klassischen Katastrophenszenarien der Moderne, seit Thomas Robert Malthus seinen vielzitierten „Essay on the Principle of Population“ schrieb. Aber vielleicht sind Horrorszenarien eher Teil des Problems als der Lösung? Im globalen Ausblick skizziert der Vortrag die Entwicklung der modernen Land- und Ernährungswirtschaft, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem notorischen Krisenherd entwickelte und gegen ökologische Reformpolitik frappierend immun zu sein scheint. Vielleicht stellt die Umweltpolitik bei der Landwirtschaft die falschen Fragen?

 

 

Zukunft verhandeln: Umweltdiplomatie im 20. Jahrhundert

Dienstag, 16. Januar 2024, 15.45-17.15 Uhr, R 231, Geb. 11.40

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Portträtfoto Wöbse

Dr. Anna-Katharina Wöbse
Umwelthistorikerin


Abstract

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts taucht ein neues Themenfeld in der internationalen Politik auf – der Schutz von Natur im Allgemeinen, von Pflanzen, Tieren und ihren Lebensräumen im Speziellen. Bereits 50 Jahre vor dem Bericht des Club of Rome wird im Völkerbund über die globalen Dimensionen von Meeresverschmutzung, Walfang oder Landschaftszerstörung debattiert. Die ersten Lösungsansätze und Verhandlungsprozesse werden vom Zweiten Weltkrieg gestört, reichern sich mittelfristig aber im Sediment der heutigen Umweltkonventionen an. In der Zusammenschau von
100 Jahren konkretisieren sich sowohl Muster ernüchternden Versagens der Staatengemeinschaft als auch bemerkenswerte Veränderungen und gelungene Interventionen.

 

 

Wissenschaftliche Expertise und der Aufstieg von Climate Engineering: Eine historisch-soziologische Perspektive
Hinweis: Leider muss der Vortrag am 30. Januar 2024 von Dr. Julia Schubert krankheitsbedingt ausfallen. Wir bitten um Ihr Verständnis!
Porträtfoto Schubert

Dr. Julia Schubert
Soziologien und Postdoktorandin am Lehrstuhl für Hochschul- und Wissenschaftsmanagement, Universität Speyer


Abstract

Climate Engineering zielt darauf ab, die globale Erderwärmung durch technologische Eingriffe in das globale Klima anzuhalten oder zu verlangsamen. Während der Begriff ‚Climate Engineering‘ weiterhin kontrovers bleibt, rücken die unter ihm diskutierten Maßnahmen rasant ins Zentrum klimapolitischer Auseinandersetzung. So sind sich die Experten beispielsweise einig, dass das in Paris postulierte 1,5°C Ziel nicht mehr zu erreichen ist, ohne beträchtliche Mengen an bereits emittiertem CO2 aus der Luft zu ziehen und unterirdisch zu speichern. Einige gehen sogar davon aus, dass die Einbringung reflektiver Partikeln in der Stratosphäre notwendig sein wird, um eine gefährliche Erderwärmung auch kurzfristig zu verhindern. Der Vortrag rekonstruiert, wie es zu diesen umstrittenen Vorschlägen kam. Er zeigt, wie sich in der Geschichte von Climate Engineering wissenschaftliche mit politischen Ambitionen verknüpfen und was das für die aktuelle Auseinandersetzungen mit diesen Maßnahmen bedeutet.
 

 

 

Eine kritische Perspektivierung des Begriffs Nachhaltigkeit
Hinweis: Der Vortrag findet ausschließlich online via ZOOM statt. Wir bitten um Ihr Verständnis!

Dienstag, 13. Februar 2024, 15.45 Uhr, Online via ZOOM

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Prof. Dr. Rolf-Ulrich Kunze (KIT) 
Historiker und Professor für Neuere und neueste Geschichte des KIT


Abstract

Zum Abschluss wird eine Bilanz der Vorträge und Diskussionen der Ringvorlesung „Nachhaltig in die Katastrophe“ gezogen. Vor dem Hintergrund aller Vorträge wird an die Frage der Einleitung angeknüpft: Welche rechtlichen Regulierungs- und Interventionsmöglichkeiten für eine Verfassung der Nachhaltigkeit auf EU-Ebene sind denkbar? Dabei soll auf Armin von Bogdandys Interpretation des „Strukturwandels im öffentlichen Recht“ (Berlin 2022) zurückgegriffen werden. Sie betont, dass die EU mit Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) bereits eine bestehende europäische Gesellschaft beschrieben wird. Diese europäische Gesellschaft teilt bestimmte politische Werte, deren Umsetzung, Schutz und Weiterentwicklung Aufgabe der Mitgliedsstaaten wie der EU ist. Nachhaltigkeit ließe sich – bei gegebenem politischem Willen – als Konkretisierung der in Art. 2 EUV herausgestellten Werte der Gerechtigkeit und der Solidarität interpretieren: u. a. zwischen Regionen, aber insbesondere auch zwischen Generationen und im Verhältnis zum Rest der Welt. Auf diese Weise könnte sich ein Verfassungsprozess von unten fortsetzen, den es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Die EU und ihre Gesellschaften haben dazu das Potential, und tatsächlich in der globalen Betrachtung derzeit nur sie allein.

Die Ringvorlesung wird federführend von einer studentischen Initiative, angeleitet von Prof. Rolf-Ulrich Kunze (Department für Geschichte) sowie dem ZAK | Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale, organisiert und ausgerichtet: Arne Cypionka, Alice Gelsenlichter, Melvin Pietschmann, Philippe Priester, Jona Schichta