Karlsruher Gespräche 2014

 Prof. Dr. André Habisch

Prof. Dr. André Habisch studierte Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin und promovierte in Katholischer Theologie an der Universität Tübingen. Er unterrichtet Christliche Sozialethik mit dem Schwerpunkt Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Als Associate Research Director der Academy of Business in Society (Brüssel/New York/Shanghai) verantwortet Habisch zudem seit 2010 das interkulturelle Konferenz- und Publikationsprojekt ,Practical Wisdom in Management from the Religious and Spiritual Traditions‘. Er ist wissenschaftlicher Berater des Bundes Katholischer Unternehmer und Kuratoriumsvorsitzender der Bayer Cares Foundation. Habisch war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommissionen ,Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements‘ (1999-2002) und ,Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität‘ (2011-2013) des Deutschen Bundestages und gehört dem wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung an.

 

Das ZAK bat Prof. Dr. André Habisch folgende Fragen zu beantworten:

 

1. Befördert oder behindert die Weltmarktgesellschaft die Erreichung globaler humanitärer Lebensverhältnisse?
In ökonomischer Hinsicht hat sie das Potenzial, global humanitäre Lebensverhältnisse eher zu befördern. Allerdings ist der Befund ambivalent: Die wirtschaftliche Situation in wichtigen Schwellenländern hat sich deutlich verbessert, dagegen wachsen in entwickelten Ländern die sozialen Unterschiede. Die schlechtesten Lebensbedingungen bieten allerdings nach wie vor jene Regionen bzw. Länder, die nicht zur Weltmarktgesellschaft gehören.
In ökologischer Hinsicht verschlechtern sich die gemeinsamen Lebensbedingungen zunehmend. Die Rockström-Kommission hat auf die Grenzen der Belastbarkeit des komplexen Biosystems Erde hingewiesen; im Hinblick auf Biodiversität, Umweltgasbelastung und Stickstoffkreislauf haben wir nach den Ergebnissen der Kommission die Belastungsgrenzen bereits überschritten.
In sozialer Hinsicht verändern sich die Lebensbedingungen durch Individualisierung und Erosion traditioneller Gemeinschaftsformen. Nicht alle Personen schaffen es, dem damit verbundenen Verlust gesellschaftlicher Integration durch den Aufbau posttraditioneller Netzwerke zu entkommen. Vereinsamung wächst aber auch hier vor allem unter jenen, die schlecht in die Weltmarktgesellschaft integriert sind.
Auch in spiritueller Hinsicht verschlechtern sich die Lebensbedingungen. Lebenssinn und personelle Verwurzelung in Werten und Wertegemeinschaften werden zur knappen Ressource. Personelle Identität definiert sich immer mehr durch die ökonomische Funktion – was insbesondere in Krisensituationen wie bei Arbeitsplatzverlust zum Problem wird.
Für die globalen Ordnungsprobleme und die Verfehlung ihrer humanitären Ziele kann die Weltmarktgesellschaft nicht die Politiker alleine verantwortlich machen. Weltmarktgesellschaftliche Kräfte sind gefordert.

 

 

2. Wie viel Privatheit bleibt uns zwischen staatlicher Überwachung und kommerzieller Profilerhebung und was ist sie uns wert?
Hier geht es nicht nur um ‚informationelle Selbstbestimmung‘, sondern um Freiheit und Würde der Person als Leitvorstellung wirtschaftlichen und politischen Handelns. Privatheit ist ein öffentliches Gut. Sie muss durch politische und wirtschaftliche Entscheidungen immer wieder hergestellt und gegen andere Werte abgewogen werden. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung verpflichtet Staat und Wirtschaft darauf, die Würde jeder menschlichen Person zu achten. Weder staatliche Überwachung zur Terrorismusprävention noch kommerzielle Profilerhebung stehen als solche im Widerspruch dazu; beide sind in bestimmtem Umfang notwendig für politische und wirtschaftliche Ordnung. Zum Problem werden der sorglose Umgang mit persönlichen Daten, Manipulation und Täuschung an der Grenze zum Betrug, Diskriminierung oder gar Staatskriminalität. Zum Problem wird dabei auch das Schrumpfen von Räumen unbedingter Annahme und Solidarität. Im Beispiel: Werbeanrufe aus Callcentern tragen die Kommunikationslogik der Marktgesellschaft in die Wohnungen hinein. Sie nutzen dabei womöglich Kenntnisse der persönlichen Schwächen. Für viele Personen ist aber der Werbeanruf nur mehr der einzige Kontaktversuch aus der Außenwelt (er muss jedenfalls sehr lukrativ sein, wenn Firmen trotz staatlicher Verbote daran festhalten). Angesichts fließender Übergänge ist es letztlich eine Frage des Ethos verantwortlicher Unternehmensführung, verantwortlichen Journalismus und der verantwortlichen Überwachungstätigkeit, Privatheit und legitime wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen gegeneinander abzuwägen. Aber werden die handelnden Personen auf diese Dimension ihrer Profession überhaupt vorbereitet?

 

 

3. Führt die Weltmarktgesellschaft zu neuen Formen des Menschenhandels oder kann sie eine Chance für die Durchsetzung internationaler Standards für menschenwürdige Arbeitsverhältnisse sein?
Auch bei Menschenhandel ist das Kernproblem die Missachtung der Würde der menschlichen Person. In gewisser Weise trägt jede Form des ‚Human Ressource Management‘ auch Züge des Menschenhandels. Doch nicht die Instrumentalisierung des Menschen an sich ist das Problem – wir instrumentalisieren uns ständig gegenseitig; das Problem liegt vielmehr darin, das Gegenüber dabei zu einem bloßen Instrument zu reduzieren, das nach ‚Gebrauch‘ nicht weiter interessiert. Kant argumentiert in diesem Sinne bei der Formulierung seines Kategorischen Imperativs differenziert: Das Gegenüber darf nie nur als Mittel, sondern muss immer zugleich auch als Zweck an sich behandelt werden. Was unterscheidet den ehrbaren Arbeitgeber von Schlepperbanden, Zuhältern, Menschenhändlern? Dass er die Hoffnungen, Sehnsüchte und Ambitionen seiner Mitarbeiter kennt und in seinem Führungsverhalten nach Möglichkeit berücksichtigt. Dass er eine Arbeitsbeziehung überhaupt nur dann eingeht, wenn er prinzipiell auch dazu in der Lage ist, diesen Hoffnungen zu entsprechen. Dass er seine Grenzen dabei offen kommuniziert. Übergänge sind auch hier selbstverständlich fließend.

Gerade die Weltmarktgesellschaft kann internationale Standards für menschenwürdige Arbeitsverhältnisse nicht mehr alleine von der Politik erwarten. Wir werden vielmehr Zeugen neuer Formen der Moralisierung wirtschaftlicher Handlungen: Prinzipien verantwortlichen Managements (UN Global Compact), des Investitionshandelns (Principles for Responsible Investment, PRI), verantwortlicher Managementausbildung (Principles for Responsible Management Education, PRME) etc. werden formuliert. Firmen und Organisationen lernen, für ihr internes und externes Organisationshandeln moralische Prinzipien zu formulieren und sie dann auch systematisch umzusetzen. Wenn diese Prozesse richtig organisiert sind, dann können sich Mitarbeitende darin auch Aspekte der moralischen Dimension ihrer Profession erschließen. Sollen solche kollektiven Erfahrungsräume nicht nur von einer schmalen intellektuellen Elite bewohnt werden, dann müssen auch die großen spirituellen Traditionen der Menschheit in diesen Prozess der Neuerschließung von Normativität mit einbezogen werden. Orientierungsmaßstäbe verantwortlichen Handelns sind hier über Jahrhunderte hinweg bereitgehalten und von Generation zu Generation weitergegeben worden. Glauben wir wirklich, dass dieses kulturelle und spirituelle Erbe der Weltmarktgesellschaft erhalten bleiben kann, wenn an die Stelle des Freitagsgebets, des Synogogen- und Tempelgottesdienstes, der Sonntagspredigt und der Sakramentenkatechese endgültig die Spielkonsole, die Soap-Opera, die Comedyshow, die Sportreportage tritt? In Entsprechung zur christlichen Sozialethik in Zeiten der Industrialisierung müssen Religionsgemeinschaften auch heute neue Narrative, Kommunikations- und Gemeinschaftsformen entwickeln – als Träger der ‚Inkulturation‘ ihrer normativen Traditionen in den Kontext des 21. Jahrhunderts.