Karlsruher Gespräche 2016

Partizipatorische Demokratie in der EU: Eine Herausforderung für Multilevelgovernance

 

Prof. Dr. Johannes W. Pichler

Referent

Prof. Dr. Johannes W. Pichler, geboren 1947, hielt von 1995 bis 2015 den Lehrstuhl für Europäische Rechtsentwicklung und war Vorstand des Instituts für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung an der Universität Graz. Seit 1989 ist er auch Direktor des Österreichischen Instituts für Europäische Rechtspolitik am Internationalen Forschungszentrum Edmundsburg in Salzburg.

Pichler hat sein Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Salzburg und Wien absolviert. Seine Habilitationsschrift ging über ‚Necessitas‘ (1980). Er veröffentlichte zahlreiche Bücher und Abhandlungen im Rahmen eines europäischen Rechtspanoramas, unter anderem über Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Mietrecht, Patientenrechte und Medizinrecht, Verschuldensunabhängige Entschädigungssysteme, Umweltrecht, Kinderrechte, Jugendrechte, eCommerce und zu Themen bezüglich der EU und Partizipativer Demokratien.

Der aktuelle Fokus seiner Arbeit besteht insbesondere in folgenden Themen:
1. Rechtssoziologische Aspekte, etwa über die Entwicklung einer Methode zur Bewerbung der Europäischen Rechts- und Werteidee und darüber, wie man die EU-Verfassung, d.h. den Unionsvertrag und die EU Grundrechtecharta vermitteln kann.

2. Europäische Bürgerinitiative (Art 11 (4) EUV, den sogenannten ‚Wertedialog‘ (Art 17 (3) AEUV) und die beiden europäischen zivilen Dialoge, den sogenannten ‚horizontalen‘“ und den sogenannten ‚vertikalen‘ nach Art 11 (1) und (2) EUV.

3. Projekt ‚Eleven One: The European Citizens´ Senate Online‘, das eine mächtige ePlattform entwickeln will für die faktische Umsetzung und den Betrieb des horizontalen Dialogs.

 

Statements

1. Welche Werte halten für Sie die Europäische Union zusammen?

Nur (mehr) die Rechtswerte und Verfassungswerte, exakt so wie sie in den Verträgen, also dem Vertrag über die Europäische Union (EUV), dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der EU-Grundrechtecharta (GRC) und dem Vertrag von Lissabon stehen. Nicht mehr, aber jedenfalls auch nicht weniger. Just diese Rechtswerte sollten allmählich wehrhaft gemacht werden. Wie kann eine gemeinschaftliche europäische Identität zukünftig besser vermittelt werden? Indem ebendiese oben zitierten Rechtswerte respektiert, gelebt und von ausnahmslos allen mitgetragen werden; indem diese Werte von jeder und jedem eingefordert werden können und notfalls auch verstärkt eingeklagt werden. Eine Gemeinschaft erfordert eben Gemeinschaftssinn. Diese europäische Gemeinschaft hat ihren ‚Sinn‘ verrechtlicht und verfasst; es ist ein Europa des Rechts. Das hat sich bisher noch niemand zu kommunizieren zugetraut oder zugemutet, weil: zu komplex und zu abstrakt. Also hat man simpel den ‚angreifbaren‘ Euro zum Anchorman der Boni gemacht – und damit gerade keine Identität erzeugt, schon gar keinen ‚spirit‘ gesät und erst recht auch kein Narrativ gefunden. Wie ginge es besser? Man muss die europäische Idee auf die emotionale Andockebene bringen, den Europäerinnen und Europäern ‚hope and pride‘ weisen. Die Entwicklung eines solchen Gefühls wäre durchaus begründet – leider ist das Verkündungspersonal nicht authentisch.

 

2. Sind andere Modelle – wie etwa ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder eine Europäische Föderation der Regionen – vorstellbar?

Aber ja. Für einen Rechtshistoriker ist das alles nur eine Frage der am Ende gewollten Gesamtarchitektur; verfassungskonforme Rechtsgebäude und Organisationsstrukturen finden sich immer.

 

3. Halten Sie die derzeitigen nationalistischen Bestrebungen für ein sich aus den Krisen ergebendes kurzfristiges Phänomen oder für den Beginn einer langfristigen Entwicklung?

Klar letzteres. Das ist jetzt der Lackmus-Test für das Europamotto in varietate concordia (In Vielfalt geeint): wieviel an Ausdünnen von concordia verträgt eine politische Union, ab wann zerbricht sie in ihre Teile? Denn: Je weniger an eine starke europäische Identität und an eine kraftvolle Union geglaubt wird (der man etwa auch zutrauen dürfen sollte, eine Völkerwanderung meistern zu können), desto stärker lehnt man sich – enttäuscht – wieder an seine ‚kleine‘ eigene angestammte Identität an. Die für concordia Verantwortlichen werden sich ganz schnell etwas einfallen lassen müssen, sonst bleibt nur Varietät.