Karlsruher Gespräche 2016

Europas Krisen: Grexit, Brexit und Co.

 

Dr. Haig Simonian

Referent

Dr. Haig Simonian, geboren 1955, studierte an der University of Oxford Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften. Nach seiner Promotion mit einer Dissertation zum Thema The Privileged Partnership: Franco-German Relations in the European Community 1969-1984 (1985) betätigte er sich für kurze Zeit als Investmentbanker, bevor er sich dem Journalismus zuwandte. Ab 1984 arbeitete er zunächst als Wirtschaftsredakteur für den Economist, 1987 ging er als Korrespondent für die Financial Times nach Frankfurt. Danach war Simonian in Mailand und Paris tätig. 1999 wechselte er als leitender deutscher Korrespondent der Financial Times nach Berlin, ab Ende 2003 war er in Zürich als Schweiz- und Österreich-Korrespondent tätig. Im Sommer 2012 zog er sich aus dem Journalismus zurück, seither arbeitet er als freier Autor.
Simonian verfügt über weitreichende Erfahrungen im Rundfunk und als Konferenzleiter. Er verfasst für die NZZ am Sonntag eine monatliche Kolumne und tritt regelmäßig im deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Schweizer Radio und Fernsehen sowie in Deutschland und in Großbritannien auf.

 

Statements

 

1. Welche Werte halten für Sie die Europäische Union zusammen? Wie kann eine gemeinschaftliche europäische Identität zukünftig besser vermittelt werden?

Die Europäische Union basiert auf den gemeinsamen Werten der Demokratie, der Bürgerrechte und der Meinungsfreiheit. Werte wie diese hat man früher in weiten Teilen Europas sehr geschätzt. Der Grundpfeiler der europäischen Integration der Nachkriegszeit war die Wiederherstellung dieser Werte nach ihrer Abwertung durch den Faschismus (und nach 1945 durch den Kommunismus in Osteuropa).

 

2. Sind andere Modelle – wie etwa ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder eine Europäische Föderation der Regionen – vorstellbar?

Auch wenn es stets eines der Gründungsprinzipien der Europäischen Union war, immer weiter zu wachsen, sind durch die Expansion neue Mitgliedsstaaten hinzugekommen, die sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht äußerst heterogen sind und abweichende langfristige Prioritäten haben. Folglich werden wir um eine EU mit ‚variabler Geometrie‘ oder mit ‚variabler Geschwindigkeit‘ nicht umhin kommen.

 

3. Halten Sie die derzeitigen nationalistischen Bestrebungen für ein sich aus den Krisen ergebendes kurzfristiges Phänomen oder für den Beginn einer langfristigen Entwicklung?

Es ist praktisch unmöglich festzustellen, ob die derzeitigen Spannungen innerhalb der EU eine kurzfristige Erscheinung sind, die sich aus der Kombination zufälliger Faktoren (wirtschaftliche Nachwirkungen der Finanzkrise, stark unterschiedliche Reaktionen auf externe geopolitische Entwicklungen usw.) ergeben, oder eher fundamentaler Art sind. Klar ist, dass sich die EU wohl zu schnell darauf eingelassen hat, neue Mitgliedsstaaten aufzunehmen und sie dermaßen stark zu integrieren. Langfristig mögen dies attraktive Ziele sein. Was es aber tatsächlich an Vorteilen mit sich bringt, ist den Bürgern in vielen Mitgliedstaaten nicht ausreichend vermittelt worden.