Was ist Wahrheit? Annäherung an ein umstrittenes Konzept

Colloquium Fundamentale im Sommersemester 2023

Seit Jahren geistert der Begriff des postfaktischen Zeitalters durch die Medien und meint damit unsere Zeit, in der Verschwörungsmythen und Fake-News im Internet Konjunktur haben und demokratische Parteien von Persönlichkeiten geleitet werden, die einer Lüge nach der anderen überführt werden. Die Diagnose suggeriert, dass wir uns historisch in einer Phase befinden, in der Fakten und die Wahrheit weniger Wert sind als je zuvor. Gleichzeitig war unser Wissen über die Welt nie größer; man könnte auch sagen, nie waren wir näher am Erkennen des Wahren dran und doch wähnen wir die Wahrheit in der Krise. Dabei ist Wahrheit in unterschiedlichen Bereichen unserer Gesellschaft von großer Bedeutung. Sie wird in Gerichtssälen verhandelt, durch journalistische Recherchen enthüllt und mit Faktenchecks verteidigt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen sich ihr anzunähern und auf diese Weise unser Wissen zu mehren.

Doch was verstehen wir eigentlich unter Wahrheit: Wahrhaftigkeit? Wirklichkeit? An Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit? Gibt es die eine objektive Wahrheit, auf die sich alle Menschen auf diesem Planeten einigen können oder bestimmen der Ort, an dem wir leben, unsere Sozialisierung oder die Quelle einer Information, was wir für wahr oder unwahr halten?

Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigt sich das Colloquium Fundamentale im Sommersemester 2023. Wir wollen unterschiedliche Perspektiven auf den Begriff der Wahrheit eröffnen und die Diagnose des postfaktischen Zeitalters diskutieren.

Das Colloquium Fundamentale wird durch den KIT Freundeskreis und Fördergesellschaft e.V. gefördert.

Wissenschaftliche Leitung: Dr. Doris Teutsch
Organisation: Mareike Freier M.A.

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Veranstaltungsübersicht

Politiken der Wahrheit.
Aufmerksamkeit, Stress und Gruppenbildung im postfaktischen Zeitalter

Donnerstag, 27. April 2023, 18.30 Uhr, NTI-Hörsaal, Geb. 30.10, KIT Campus Süd, Engesserstraße 5, EG

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Prof. Dr. Bernhard Kleeberg

Prof. Dr. Bernhard Kleeberg
Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Erfurt


Abstract
Angesichts globaler Krisensituationen ist es von eminenter wissenschaftlicher wie politischer Relevanz herauszufinden, wie Gesellschaften mit der Wahrheit umgehen. Dabei zeigt sich, dass sich die gängige Diagnose, die Wahrheit zähle heute nichts mehr, zur empirischen Situation merkwürdig schief verhält. Denn was sich in den aktuellen Debatten beobachten lässt, ist eine Vermehrung unterschiedlicher Wahrheitsansprüche, deren vehemente Verteidigung mit einer korrespondierenden Vielfalt an Glaubenssystemen im Zusammenhang zu stehen scheint. Die Anrufung der Wahrheit führt anscheinend nicht zur Einigung über eine geteilte Wirklichkeit, sondern produziert Stress und soziale Differenz. Diesem Befund geht der Vortrag mittels des analytischen Instrumentariums der „Praxeologie der Wahrheit“ nach.


Kurzbiographie ⊻

Bernhard Kleeberg ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Erfurt. Er forscht zu Praxeologien der Wahrheit, Politischen Epistemologien Osteuropas und zur Geschichte der Sozialpsychologie. Er ist geschäftsführender Herausgeber der Buchreihe Historische Wissensforschung sowie der NTM – Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin.

 

Die Wahrheit vor Gericht

Donnerstag, 11. Mai 2023, 18.30 Uhr, NTI-Hörsaal, Geb. 30.10, KIT Campus Süd, Engesserstraße 5, EG

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Prof. Dr. Thomas Fischer

Prof. Dr. Thomas Fischer
ehemaliger Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof

 

Abstract
Von gerichtlichen Verfahren erwarten die meisten Bürgerinnen und Bürger, dass „die Wahrheit“ ermittelt und der Entscheidungsfindung zugrunde gelegt wird. Nicht selten wird diese Erwartung in den Augen Betroffener enttäuscht. Nicht jede Kritik ist berechtigt; Manches beruht auf Missverständnissen über Aufgaben und Möglichkeiten der Justiz.

Der Vortrag befasst sich mit der Frage, worauf die Tatsachenfeststellung in Verfahren vor den Zivilgerichten und insbesondere den Strafgerichten gerichtet ist, nach welchen unterschiedlichen Regeln sie sich vollzieht und was „Wahrheit“ im Gesamtzusammenhang unseres Rechtssystems bedeutet.


Kurzbiographie ⊻

Thomas Fischer, geboren 1953, studierte ohne Abschluss Germanistik in Frankfurt /M., ab 1980 Rechtswissenschaft in Würzburg (Staatsexamen 1984 und 1987). 1986 wurde er in Würzburg zum Dr. jur. utr. (beider Rechte) promoviert. Im Januar 1988 trat er in den Justizdienst des Freistaats Bayern ein und war als Strafrichter am Amtsgericht tätig; nebenbei studierte er Soziologie in Würzburg. Nach einer zweijährigen Abordnung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesgerichtshof ließ er sich nach Sachsen versetzen und war von 1993 bis 1996 Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer am LG Leipzig, 1996 bis 2000 Referatsleiter im Sächsischen Justizministerium. Von 2000 bis 2017 war er Richter am Bundesgerichtshof, seit 2008 stellvertretender Vorsitzender und seit 2013 Vorsitzender des 2. Strafsenats. 2017 trat er in den Ruhestand. Seit 2021 ist er als Rechtsanwalt in München zugelassen und als Strafverteidiger tätig.

Thomas Fischer ist seit 1999 Alleinautor eines weitverbreiteten Erläuterungswerks zum Strafgesetzbuch und seit 1991 Mitautor eines Kommentarwerks zur Strafprozessordnung. Er hat mehrere populärwissenschaftliche Bücher zum Strafrecht sowie zahlreiche fachlich spezifische und allgemeine Beiträge veröffentlicht. Einer breiten Öffentlichkeit ist er durch seine Tätigkeit als Kolumnist unter anderem bei „Die ZEIT“ (2013 bis 2018), „der SPIEGEL“ (seit 2019) und „Legal Tribune Online“ (LTO, seit 2022) sowie seit 2019 durch den Podcast „Sprechen wir über Mord?“ mit Holger Schmidt bei SWR 2 bekannt. Weitere Informationen unter www.fischer-stgb.de.


 

Wissenschaft als Mittel gegen das „postfaktische Zeitalter“?

Donnerstag, 25. Mai 2023, 18.30 Uhr, NTI-Hörsaal, Geb. 30.10, KIT Campus Süd, Engesserstraße 5, EG

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​​Prof. Dr. Frieder Vogelmann

Prof. Dr. Frieder Vogelmann
Professor für Epistemology & Theory of Science an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

 

Abstract
Die populäre Diagnose eines »postfaktischen Zeitalters« reagiert auf den Anstieg von Unwahrheiten in der Politik und die Feindseligkeit gegen, ja Verleugnung von wissenschaftlichen Ergebnissen. Sie trifft jedoch auf historische, begriffliche und erkenntnistheoretische Einwände: Unklar ist beispielsweise, wann das „postfaktische Zeitalter“ begann und was es gegenüber anderen Formen von Unwahrheiten in der Politik (Lügen, Ideologie, Propaganda etc.) auszeichnet. Zudem verbreitet die Diagnose das idealisierte Bild einer einheitlichen Wissenschaft, dem reale wissenschaftliche Praktiken nie entsprechen können, und fördert so das Misstrauen gegen Wissenschaften. In seinem Vortrag entwickelt Frieder Vogelmann daher eine Alternative, die Wissenschaften gegen ihre Leugnung verteidigen kann, ohne sie zu verherrlichen, und die dennoch geeignet ist, Unwahrheiten in der Politik entgegenzutreten.


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Frieder Vogelmann studierte Philosophie, Kognitionswissenschaften und Mathematik. Nach einer Promotion in der Sozialphilosophie und Stationen an der Universität Bremen und Frankfurt ist er seit 2021 Professor für Epistemology & Theory of Science an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Erkenntnistheorie sowie der Sozialphilosophie; aktuell arbeitet er zur Beziehung zwischen (Un)Wahrheit und Demokratie, zu einem realistischen Bild wissenschaftlicher Praktiken sowie zur Genealogie des Normativitätsbegriffs.

 

Wahn oder Wirklichkeit? Wie das Bild der Welt in unseren Köpfen entsteht.

Donnerstag, 22. Juni 2023, 18.30 Uhr, NTI-Hörsaal, Geb. 30.10, KIT Campus Süd, Engesserstraße 5, EG

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Im Rahmen des Wissenschaftsfestivals EFFEKTE Karlsruhe

Prof. Dr. Philipp Sterzer

Prof. Dr. Philipp Sterzer
Chefarzt und Professor für Translationale Psychiatrie an die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel

 

Abstract
Querdenker, Klimawandelleugnung, alternative Fakten – wie ist es möglich, dass Menschen felsenfest von Dingen überzeugt sind, die aller Wahrscheinlichkeit nach falsch sind? Sind sie einfach nur schlecht informiert? Oder leiden sie an einem Wahn? Der Hirnforscher, Psychiater und Psychotherapeut Philipp Sterzer geht der Frage nach, wie das Gehirn uns Welten baut; und warum uns unsere Überzeugungen richtig und vernünftig erscheinen, auch wenn sie sich von der Realität entkoppeln. Auf der Grundlage neurowissenschaftlicher, psychologischer und evolutionstheoretischer Erkenntnisse stellt er die Dichotomie zwischen «normal» und «verrückt» infrage. So entlarvt er einerseits gewöhnliche Überzeugungen als irrational und macht andererseits wahnhaftes Denken besser nachvollziehbar.


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Philipp Sterzer studierte Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Harvard Medical School in Boston. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München machte er zunächst eine Ausbildung zum Neurologen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dort begann er auch seine wissenschaftliche Tätigkeit zum Thema visuelle Wahrnehmung und Bewusstsein, die er im Anschluss am University College London fortführte. In der Folge wechselte er nach Berlin an die Charité. Neben der klinischen Ausbildung zum Psychiater und Psychotherapeuten gründete er dort die AG Visuelle Wahrnehmung und war dort von 2011 bis 2022 als Professor für Psychiatrie mit Schwerpunkt Computational Neuroscience tätig. Im Mai 2022 wechselte er als Chefarzt und Professor für Translationale Psychiatrie an die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. In seiner Forschung nutzt er Methoden der funktionellen Bildgebung und des Computational Modelling für die Untersuchung von Vorhersageprozessen in der Wahrnehmung und deren Veränderungen bei psychotischen Erkrankungen. Neben zahlreichen Beiträgen in Fachzeitschriften und Fachbüchern veröffentlichte er zuletzt das Buch «Die Illusion der Vernunft: Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten»..

 

Fake News und Wahrheit im politischen Diskurs

Donnerstag, 6. Juli 2023, 18.30 Uhr, NTI-Hörsaal, Geb. 30.10, KIT Campus Süd, Engesserstraße 5, EG

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Dr. Jana Egelhofer

Dr. Jana Egelhofer
Kommunikationswissenschaftlerin am Munich Science Communication Lab an der LMU München

 
Abstract
Im politischen Diskurs unterscheiden sich oftmals die Verständnisse „wahr“ und „falsch.“ Vermehrt bezichtigen sich politische Akteurinnen und Akteure gegenseitig der Unwahrheit beziehungsweise der Lüge. Ein Paradebeispiel dieses Trends ist die politisierte und polarisierte Nutzung des Begriffs „Fake News.“ Seit 2016 ist er nicht mehr aus dem öffentlichen Diskurs wegzudenken. Während Journalistinnen und Journalisten sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter „Fake News“ vorwiegend als Nachrichtenartikel aufgemachte Desinformation verstehen, verwenden viele (vorwiegend populistische) Politikerinnen und Politiker den Begriff gegen Nachrichtenmedien. Konkret wird den Medien vorgeworfen Fake News zu verbreiten um die Bevölkerung zu täuschen.

Der Vortrag befasst sich detailliert mit ebendieser politisierten Debatte um „Fake News“ und ihren Konsequenzen für die Rolle der Medien in demokratischen Gesellschaften.


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Dr. Jana Laura Egelhofer ist Kommunikationswissenschaftlerin am Munich Science Communication Lab an der LMU München. Sie forscht in den Bereichen politische Kommunikation und Wissenschaftskommunikation. Sie hat zu Fake News und Medienkritik an der Universität Wien promoviert. Ihre Forschung wurde in internationalen Fachzeitschriften und Büchern wie z.B. Annals of the International Communication Association, Journal of CommunicationJournalism Studies, and Journal of Language and Politics publiziert.