Prof. em. Alfred Grosser

Alfred Grosser, von vielen als einer der großen Architekten der deutsch-französischen Beziehungen bezeichnet, sieht sich selbst lieber als Aufklärer. Mit unserem Mitarbeiter Felix Grünschloss sprach er im Rahmen der Karlsruher Gespräche 2005 "Kultur und GeRECHTigkeit" über moralische Prinzipien wie Friede und Gerechtigkeit als Grundlage der europäischen Leitkultur, den Jahrestag  des totgeschwiegenen Genozids an den Armeniern und „die kritische Distanz zu sich selbst“.

Ein Gespräch mit Prof. Alfred Grosser

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Prof. Alfred Grosser bei seinem Vortrag "Gibt es eine europäische Leitkultur?“ im Rahmen der 9. Karlsruher Gespräche 2005.

Herr Grosser, Sie sprechen oft über die moralischen Prinzipien Gerechtigkeit und Freiheit, aber halten Sie deren Realisierung absolut gesehen überhaupt für möglich?
Zuallererst einmal, das betonte ich schon in meiner Friedenspreisrede 1975, gibt es keine Wahrheit. Es gibt nur die Suche nach Wahrheit. Genauso wenig gibt es absolute Freiheit und Gerechtigkeit, sondern nur Dinge die freier und gerechter sind als andere. Auch Friede schlechthin gibt es nicht, denn Frieden ist immer auch ein Zufriedengeben des Schwächeren. Es gibt überhaupt kein Absolutes, es gibt nur das Streben nach dem, was man absolut als Ziel anspricht.

Bei den Karlsruher Gesprächen stellten Sie vor allem die Freiheit als einheitsstiftendes Moment in den Mittelpunkt ihres Vortrages über die europäische Leitkultur. Deutschland bezeichneten Sie in diesem Zusammenhang als vorbildhaft für Europa.
Die Bundesrepublik Deutschland ist europaweit leider das einzige Land, das nicht auf den Gedanken der Nation aufgebaut worden ist, sondern auf eine Ethik. Der Freiheitsgedanke äußert sich hier in der doppelten Ablehnung des Nationalsozialismus in der Vergangenheit und des kommunistischen Stalinismus in der Nachbarschaft. Was die beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg eigentlich unterschied, war nicht ihre Legitimität laut delegierter Souveränität der Sieger, sondern dass die BRD auf das Prinzip der Freiheit aufgebaut wurde, also auf einen Grundwert der europäischen Leitkultur... 
...ein Grundwert, der gleichzeitig eine Eintrittskarte für Europa ist?
Ja. Wir haben Spanien, Portugal und Griechenland erst in die EU aufgenommen, als sie der Diktatur entronnen waren. Und 2004 war es ähnlich. Acht der zehn Staaten, die neu dazu kamen, sind vorher frei geworden. Nur Zypern ist aufgrund griechischer Erpressung dabei und warum Malta dazugekommen ist, weiß ich immer noch nicht. Der Freiheitsgedanke zieht sich durch und ist nun auch in der neuen EU-Verfassung verankert.

Neben Freiheit und Gerechtigkeit nannten Sie auch noch zwei weitere Aspekte der europäischen Leitkultur. Die Fähigkeit, das Leiden anderer zu verstehen und die, eine kritische Distanz zu sich selbst einzunehmen. Wie kann man diese Punkte in eine Verfassung aufnehmen?
Das Leiden der anderen zu verstehen, hätte man einbringen können, denn das ist eine der Grundlagen der deutsch-französischen Annäherung nach dem Krieg gewesen und das könnte nun eine der Grundlagen für eine weitere Annäherung zwischen Polen und Deutschland sein. Die Vernunft, das ist etwas anderes. Man kann die Definition von Aufklärung nicht in die Verfassung als Grundsatz einbringen, denn man muss selber denken lernen und es ist außerordentlich schwierig eine kritische Distanz zu sich selbst einzunehmen. Ich habe nach der Veröffentlichung meines Buches „Verbrechen und Erinnerung“ einen Brief von einer schwarzen Kollegin bekommen. Sie schrieb, dass ihr das Buch sehr gefalle. Aber man würde sehen, dass ich kein Schwarzer sei, da ich die Leiden der Schwarzen anders behandle als die Leiden der Weißen. Darauf habe ich mein Buch noch einmal gelesen und musste feststellen, dass sie recht hatte. Man ist selbst nie ganz unbefangen.

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Prof. Alfred Grosser bei seinem Vortrag "„Gibt es eine europäische Leitkultur?“ im Rahmen der 9. Karlsruher Gespräche 2005.

In puncto Verfassung haben Sie den deutschen Staat als vorbildhaft für Europa bezeichnet. Gibt es noch Punkte, die Sie nachbessern würden?
Mann muss vorsichtig sein. Ich fürchte, dass man jedes Mal, wenn man das Grundgesetz anrührt es eher einschränkt als erweitert. So war es zum Beispiel bei der Freiheit der Asylsuchenden, die fest im Artikel 16 verankert war und der nun so verändert wurde, dass er mit dem ehemaligen Grundgesetz nur noch wenig zu tun hat.

Die Verfassung ist die eine Sache, die tatsächliche Umsetzung eine andere. In punkto Menschenrecht kritisierten Sie die französische und deutsche Regierung im Umgang mit Staaten wie China und Russland als zu unkritisch. Nun hat man gegenüber Ankara klein bei gegeben. Wird der historisch belegte Genozid an den Armeniern ausgerechnet von den Deutschen totgeschwiegen?
Der Genozid der Türken an den Armeniern zu Beginn des Jahrhunderts steht immer noch nicht in den deutschen Geschichtsbüchern. In Brandenburg ist er auf Druck Ankaras sogar wieder herausgestrichen worden, was noch viel schlimmer ist. Mein nächster Artikel in der katholischen Tageszeitung „La Croix“, behandelt den 23. April 1915, das heißt der Tag des Beginns des Massakers an den Armeniern. Ich drücke die Hoffnung aus, dass sich unter anderem auch die jüdischen Gemeinden dieser Feier anschließen werden. Es war ein furchtbarer Genozid. Er darf jetzt nicht im Namen der Notwendigkeit, nett zu der Türkei zu sein, verschwiegen werden. Ich hab einmal in Ankara gesprochen. Der französische Botschafter wusste, dass ich immer sehr offen bin und fragte mich vor der Rede, ob ich zwei kleine Wörtchen vermeiden könnte: „Armenier und Kurden“ (lacht). Und ich hab die beiden kleinen Wörtchen vermieden. Ich habe nur gesagt, Europa ist eine Fläche, eine politische Struktur, wo jeder frei von den Verbrechen der anderen sprechen darf, und jeder von seinen eigen Verbrechen sprechen soll.

Wie war die Reaktion?
Die Reaktion des Publikums war kühl. (lacht).

Noch ein paar Worte zu Russland und China?
Wenn ich recht verstanden habe, wollen wir, also Schröder und Chirac, nun China Waffen liefern, einer Diktatur, die jetzt mit einem neuen Gesetz direkt einen der wenigen freien und liberalen Staaten Asiens bedroht: Taiwan. Das ist skandalös. Ich finde das noch schockierender, als die Tatsache, dass man nie über Tibet spricht, wenn man die chinesischen Führer trifft, und dass man nie über Tschetschenien spricht, wenn man Putin trifft. Das Paradoxe ist, dass ausgerechnet George Bush als einziger heute Putin und Chinesen daran erinnert, dass sie keine Demokratie haben.

Wofür werden die gemeinsamen Werte beider Länder beiseite geschoben?
Zu Gunsten des Handels. Der Handel ist natürlich sehr wichtig, aber ich bin sicher, dass man, wenn man mit den Chinesen offen sprechen würde, trotzdem einen ICE oder TGV in China bauen könnte.

Apropos Handel: Deutschland ist wieder Exportweltmeister. Gleichzeitig steht die Arbeitslosenquote auf Rekordniveau. Kann das gerecht sein?
Der eigentliche Skandal und da bin ich ganz sicher, dass es ungerecht ist, besteht in der Lohnverteilung. Vor zehn bis 15 Jahren verdiente die Spitze eines Großbetriebs ungefähr 20 mal mehr als der Durchschnitt. Heute verdient sie 200 mal mehr, auch wenn währenddessen tausende von Leuten entlassen werden.

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Prof. Alfred Grosser beim anschließenden Empfang.

Sie sprachen vorher davon, dass man mit dem Gesetz vorsichtig umgehen müsste, um nicht zu viel zu beschränken. Wie sieht das mit der Lohnpolitik in der freien Wirtschaft aus?
Die großen Geldverdiener an der Spitze sagen, dass sie fortgehen, wenn ihre Gehälter gekürzt werden. Ich frage: Wohin sollen sie denn gehen? Wo sind sie angefragt? Nirgends. Das ist ein reiner, absurder Erpressungsversuch. Abgesehen davon kann man sehr wohl begrenzen. Man kann sehr wohl sagen, es kann nicht oben hoch gewonnen werden, wenn unten ständig entlassen wird. Es gibt da eine ganze Menge Dinge, die der Staat tun kann, nur wird da jetzt immer wieder gesagt, der Staat darf dies gar nicht. Ein Beispiel: Im unserer großen konservativen Zeitung, unserer FAZ, le figaro, wird geschrieben, dass eine Vermögenssteuer dazu führt, dass die Besitzenden ins Exil gehen, in die Schweiz zum Beispiel. Das Wort Exil ist tatsächlich gebraucht worden. Aber wenn man das Exil nennt, ist das Vaterlandsverrat. Man teilt nicht mit den anderen, wie das normal ist, man flieht. In diesem Sinne ist das ein Verrat, eine Verneinung der Gemeinschaft einer Nation. Und dann sagt man an die Streikenden hierzulande gerichtet – und in Frankreich haben wir sehr übertriebene Streiks – die Streikenden seien gegen die Nation, weil sie alles lahm legen. Ja, wenn einer ins Exil geht, nur um sein Geld zu sichern, ist er dann noch patriotisch?

In Ihrem Vortrag sprachen Sie auch über Brüderlichkeit, Toleranz und Freude.
Freude ist in Deutschland etwas ganz besonderes, denn die Freude ist dort seit Jahrzehnten nicht wirklich vorhanden. Jux und dummes Lachen sind keine Freude. Auch Entertainment hat mit Freude furchtbar wenig zu tun. Ich habe manchmal den Eindruck, dass das Lachen, nicht das hämische und dumme Lachen, sondern das Lachen schlechthin, das befreiende Lachen, in Deutschland weiterhin ziemlich verpönt ist. Also ich lache so viel ich kann. Den schönsten Brief, den ich je bekommen habe, schrieb mir eine alte Frau nach meiner Dankesrede zum Friedenspreis, die sie im Fernsehen gesehen hatte. Und sie schrieb: „Erst dachte ich, Sie können nur ein deutscher Professor sein, weil Sie so gut deutsch sprechen. Dann sah ich Ihr Lausbubengrinsen und wusste, sie können kein deutscher Professor sein.“ Ja, die meisten meiner Kollegen sind wirklich furchtbar ernst.

Wie können diese Werte in eine Verfassung aufgenommen werden?
Es ist ja so, dass es nicht ausreicht, einen Wert in die Verfassung aufzunehmen. Man strebt eine Reihe von Werten an, wie sie zum Beispiel in Artikel 2 stehen, die aber noch gar nicht verwirklicht sind. Zum Beispiel ist in der französischen und deutschen Verfassung die Gleichstellung von Mann und Frau festgeschrieben und immer noch nicht verwirklicht. Als der Papst gestorben ist, haben Sie vielleicht gemerkt, dass keiner der Artikel in einer Zeitung von einer Frau geschrieben wurde. Ist das Zufall? Nein, das ist kein Zufall, also zumindest bei uns nicht– ich habe alle Artikel durchgesehen- keiner ist von einer Frau geschrieben worden, mit Ausnahme der meiner alten Freundin Hanna-Renate Laurien in der ZEIT. Die Ungleichheit in der katholischen Kirche zwischen Mann und Frau ist noch dramatischer. Trotzdem steht die Gleichheit in der Verfassung.

Wenn Sie einen einzigen Wunsch frei hätten, für eine gerechtere Welt, wie sehe der aus?
Ich wünsche mir, dass die Intellektuellen keine Nabelschau mehr betreiben sondern sich wirklich um die Welt kümmern und den Einfluss, den sie haben, im Sinne der kantischen Aufklärungswahrheit verbreiten. Das klingt ein bisschen kompliziert aber die Nabelschau der Intellektuellen in unserer beiden Länder ist furchtbar.

Herr Grosser, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.