Karlsruher Gespräche 2013

Die ‚Zwischengesellschaft‘: Tradition und Moderne im Widerspruch

Prof. Dr. Natan Sznaider

Referent

Sznaider

 

Prof. Dr. Natan Sznaider ist Professor für Soziologie am Academic College of Tel-Aviv-Yaffo in Israel. Er wurde in Deutschland geboren und in Israel und den USA ausgebildet. Er unterrichtete an der Columbia University in New York und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sznaider ist Mitglied einer internationalen Forschungsgruppe, die sich mit dem kulturellen Gedächtnis in Europa, Israel und Lateinamerika beschäftigt.

Er ist Autor diverser Bücher und Artikel. 2006 veröffentlichte er zusammen mit Ulrich Beck im British Journal of Sociology den Artikel Unpacking Cosmopolitanism for the Social Sciences, der von den Redakteuren des Journals zu einem der einflussreichsten Aufsätze des Jahrzehnts gewählt wurde. Seine jüngsten Publikationen umfassen: Jewish Memory and the Cosmopolitan Order (2011), Human Rights and Memory (2010), Gedächtnisraum Europa: Kosmopolitismus: Jüdische Erfahrung und Europäische Vision (2008) sowie The Holocaust and Memory in the Global Age (2005).

 

 

Das ZAK bat Prof. Dr. Natan Sznaider folgende Fragen zu beantworten: 

1.    Bewahrung im Wandel: Was heißt dies aus Ihrer Sicht vor dem Hintergrund von Prozessen der Globalisierung und Glokalisierung?

Bewahrung und Wandel stehen nicht im Gegensatz zueinander, ganz im Gegenteil: Sie sind eng miteinander verbunden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stellt die Globalisierung eine deutliche Herausforderung für die Integration der zeitlichen und räumlichen Beständigkeit unseres Lebens – und damit auch eine Herausforderung für die Bewahrung – dar. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts einen epochalen Bruch innerhalb der Moderne darstellen. Es scheint, als seien Geschichte und Grenzen nicht länger die einzigen Formen sozialer und symbolischer Integration. Im Zeitalter der Globalisierung kann das kulturelle und politische Selbstbild weder konzeptionell noch empirisch auf einen territorial festgelegten Raum und Blickpunkt reduziert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keinen übergreifenden Horizont geben kann. Daher sollten wir versuchen, Tabus zu konstruieren, um die Moderne im Angesicht des Wandels zu bewahren. Gleichzeitig sollten wir die Frage danach stellen, welche Tabus gerechtfertigt werden können und sollten. Für mich drehen sich diese Tabus um die Bewahrung der Errungenschaften der Moderne. Mir ist bewusst, dass dies zu Recht stark kritisiert wird. Andererseits erkenne ich jedoch auch eine geradezu überschäumende Kulturkritik, die verkündet, dass die Konzepte von ‚Mensch’, ‚Menschheit’, ‚Freiheit’ und ‚Individualität’ westliche Mechanismen der Unterdrückung darstellen. Diese Kulturkritik argumentiert und kritisiert innerhalb des Horizontes einer stabilen ökonomisch-technologischen Zivilisation und Gesellschaft, dessen Existenz niemals infrage gestellt wurde.

Können wir so weitermachen? Der strittige Punkt hier ist das Problem der Selbsteinschränkung der Moderne: Wie werden post-traditionelle, reflexive Tabus ermöglicht? Die Antwort liegt in der Moderne selbst. Die Moderne muss sich der eigenen, bedrohten Modernität bewusst werden; ihrer eigenen Heiligkeit. Dies beinhaltet auch die Frage eines transzendentalen Horizontes, der versucht, sich im Angesicht des Wandels selbst zu bewahren. Die Alternative wäre die Barbarei.

Ich denke, dass solche Tabus sich auf die Erinnerung an historische und fiktionale Ereignisse verlassen können, die offenbaren, was geschieht, wenn Tabus gebrochen werden. Sie basieren nicht auf der Hoffnung auf bessere Zeiten, sondern auf der Angst vor schlechteren. Hier ist historische Erinnerung ebenso wichtig wie soziologische Vorstellungskraft. Es geht um die Ethik des ‚Nie Wieder‘. Diese Ethik besteht aus dem Bewusstsein der Katastrophe und der Kontingenz von Leben und Tod. ‚Nie Wieder‘ hat das Potenzial, universelle Prinzipien mit spezifischen Bedenken zu verbinden, d. h. im Angesicht des Wandels zu bewahren, was uns lieb und teuer ist.

2.    Was führt eine Gesellschaft angesichts wachsender Orientierungslosigkeit im Zeitalter der Globalisierung zusammen und was treibt sie auseinander?

Meiner Meinung nach bildet den Kern moderner Politik der Konflikt, und den Kern des sozialen Lebens die Schaffung von Normen. In der Welt des gesellschaftlichen Kontraktes kann ein öffentlicher Konflikt den Schlüssel zur Integration darstellen, und das Aufeinanderprallen von widersprüchlichen Normen kann unsere gemeinsamen Normen vertiefen und verstärken. Wenn es daher in der Gesellschaft nur eine, zwei oder drei stark voneinander differenzierte Gruppen gibt, sind Loyalitäten – und folglich auch Antagonismen – stark ausgeprägt. Wenn es jedoch zahlreiche Gesellschaftsgruppen gibt, verfügt jede dieser Gruppen jeweils über eine kleinere, fragmentiertere Gruppenloyalität und die Opposition ist desorganisiert und darum schwächer. Die Gesellschaft hält zusammen, weil die allgemeine Spannung verringert wird. In der modernen Gesellschaft überschneiden sich die Gruppen, die uns ausmachen, und dies verändert alles. Es bedeutet nicht nur, dass wir mit Menschen horizontal statt vertikal verbunden sind. Es bedeutet auch, dass jede Person eine einzigartige Kombination von Verbindungen ausbildet. Dies hat wiederum drei Konsequenzen: Erstens bedeutet es, dass Menschen stärker individualisiert sind; die Anzahl der möglichen Kombinationen steigt geometrisch. Zweitens bedeutet es, dass ein Individuum Gemeinsamkeiten mit einer breiteren Gruppe von Menschen hat. Und drittens bedeutet es auch, dass die Trennlinien zwischen den Gruppen aufgrund der Überschneidungen diffuser sind. Die schwachen Verbindungen der Assoziation reichen aus, um die Gesellschaft zusammenzuhalten, a) weil es schwache Verbindungen für so viele sind, b) weil sie durch ihre bloße Existenz jene Kräfte aushöhlen, welche die Menschen früher auseinandergetrieben haben und c) weil sie im freien Ausdruck der Wünsche des Individuums verankert sind. Wenn eine Person Gruppen beitritt, weil sie dies möchte, und nicht, weil sie in sie hineingeboren wurde, wird sie mehr von ihren Wünschen beeinflusst als von ihren Tabus. Wenn wir tun, was wir wollen, fühlen wir uns nicht gebunden, woraus schwache soziale Bindungen ihre Stärke beziehen. ‚Gleich-Gültigkeit‘ (oder mit Goffmans Worten ‚civic inattention‘) ist nicht Nichts. Es ist ein sehr subtiles Etwas. Es bedeutet, dass alle exakt gleich behandelt werden. Es stellt nicht den Verfall der Moral dar, sondern die Basis moderner Moral. Die institutionalisierte Form der ,Gleich-Gültigkeit‘ – die Gleichbehandlung von allen – sind die Rechte.
Daher brauchen wir ein Konzept der Öffentlichkeit, das Gruppen verbinden kann, und in dem ,Gleich-Gültigkeit‘ und soziale Distanz zur Integration in der Gesellschaft beitragen können.