Gerd Roellecke - Referent des Colloquium Fundamentale im WS 2008/09

Gerd Roellecke setzt sich seit über 40 Jahren in verschiedenen Tätigkeiten mit Rechtsfragen auseinander: als Fachjournalist, Assistent, Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichts und Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie in Mannheim. Mit unserem Mitarbeiter Felix Grünschloß sprach er anlässlich seines Vortrags im Colloquium Fundamentale am 13.11.08 über Funktionen und Grenzen des Grundgesetzes.

Die Grenzen des Grundgesetzes

Roellecke

Schwerpunkt des GG war zur Zeit seines Entstehens vor allem die Redemokratisierung Deutschlands und die Sicherung der Menschenwürde. Wo sehen Sie die aktuellen Schwerpunkte?
Die Schöpfer des GG wollten vor allem eines: Nie wieder Diktatur! Umgekehrt bedeutet das: Skepsis gegenüber der Demokratie. Deshalb sieht das GG keine „Volksgesetzgebung“ vor. „Schutz der Menschenwürde“ war lediglich das Versprechen: Wir Deutschen werden uns künftig an die Standards der westlichen Kultur halten. Beides gilt immer noch. Allein die Akzente haben sich verschoben. Heute muss man verstehen, dass Politik nur begrenzte Möglichkeiten hat. Eigentlich kann sie nichts außer entscheiden und etwas Geld verteilen.

In letzter Zeit hört man immer wieder, dass das Vertrauen der Deutschen in die Demokratie nachlässt. Gilt das auch für das Vertrauen in die Rechtssprechung?
Dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie nachlässt, ist empirisch schwer zu belegen. Wenn man bedenkt, dass in tausenden deutschen Städten und Dörfern die Demokratie glänzend funktioniert und dass die Ergebnisse der Landtagsund Bundestagswahlen ohne Proteste anerkannt werden, sollte man es kaum glauben. Entsprechendes gilt für die Rechtssprechung. Gemeint ist wohl, dass die Bürger immer häufi ger die „falschen“ Parteien wählen. Aber dazu kann man nur sagen: Wenn einer ein besseres politisches System kennt als die Demokratie, soll er „hier“ rufen. Bis dahin kann jeder emigrieren, wohin er will.

Dem aktuellen Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung zufolge hat sich in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich seit 1998 weiter geöffnet. Mehr als elf Millionen Bürger gelten als arm. Inwieweit ist das mit dem GG vereinbar?
Das GG ist ein positives Gesetz, dessen Wortlaut entscheidet. Ich kann ihm keine Norm entnehmen, die eine bestimmte Öffnung oder Schließung der Schere vorschreibt, die Reichtum deckelt oder Armut verbietet. „Umverteilung“ oder „Gleiche Vermögen“ sind Regeln, welche die beste Staatsordnung ruinieren können, weil sie auf freien Willen, Leistung, Verdienst auf der einen und Not, Krankheit, Alter und Unterdrückung auf der anderen Seite keine Rücksicht nehmen.

Halten Sie es z.B. für vorstellbar, dass man Unternehmen verbietet, intern eine gewisse Einkommensdifferenz zu überschreiten?
Das kann ich mir in der Tat nicht vorstellen, es sei denn, der Staat übernimmt für jeden Unternehmenskonkurs Ausfallbürgschaften. Welche Gehälter Unternehmen ihren Managern zahhlen, müssen die Unternehmen selbst entscheiden. Auch die Universitäten haben ja nicht die Absicht, die Einkommen ihrer Großverdiener zu deckeln.

Ein anderes aktuelles Problem ist der Terrorismus. Zu dessen Bekämpfung wurden die Grundrechte des Einzelnen in letzter Zeit wiederholt eingeschränkt. Das Volk wurde, obwohl es laut GG alleinige verfassungsgebende Macht ist, nicht direkt gefragt. Inwieweit ist das verfassungswidrig?
Unser GG, welches das deutsche Volk mit der verfassungsgebenden Gewalt gesegnet hat, hat ihm die Mitwirkung bei Verfassungsänderungen versagt. Irgendwann wird das Bundesverfassungsgericht diesen Fehler korrigieren, obwohl es nicht über verfassungsgebende Gewalt verfügt. Bis dahin gilt: Über Grundrechtseinschränkungen entscheiden der Gesetzgeber und das BVG. Grundrechte sind auch gegen Mehrheitsentscheidungen geschützt. Deshalb wäre es wohl eher verfassungswidrig, wenn das Volk bei Grundrechtseinschränkung befragt würde. Im Übrigen ist Terrorbekämpfung eine Frage der Einschätzung von Gefahren. Wenn Deutschland seinen 11. September 2001 erlebt, wird man anders über Grundrechtseinschränkungen reden als vorher.

Herr Roellecke, wenn Sie persönlich einen Satz in das GG schreiben könnten, wie würde der lauten?
Ich ließe die Präambel des GG mit dem Satz beginnen: „Im Bewusstsein seiner Fehlbarkeit hat der Parlamentarische Rat dieses Grundgesetz verabschiedet.