Umberto Santino - Referent der Europäischen Kulturtage 2008 "Rom - die Ewige Stadt im Wandel"

Mit der Gründung des „Sizilianischen Dokumentationszentrums – Giuseppe Impastato“ hat Umberto Santino 1977 eine wissenschaftliche Analyse des Phänomens Mafia angestoßen. Mit unseren Mitarbeitern Antonina Levatino und Felix Grünschloß sprach er über das komplexe Verhältnis von Mafia, Gesellschaft und Politik sowie die Erforschung und Bekämpfung der „Ehrenwerten Gesellschaft“.

Mafiastudien - Ein Gespräch mit Umberto Santino

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Herr Santino bei der Podiumsdiskussion "Ius atque iustitia – Mafia, Recht und Auslegung" im Rahmen des Symposiums der Europäischen Kulturtage 2008

Sehr geehrter Herr Santino. Ihr Zentrum versucht u.a. das Phänomen Mafia wissenschaftlich zu ergründen. Wie gehen Sie in ihren Analysen vor: Ist die Mafia ein strukturelles oder ein kulturelles Problem?
Nach unserer Analyse zeigt sich die Mafia als ein komplexes Gebilde, das aus der Wechselwirkung unterschiedlicher Einzelphänomene resultiert: Verbrechen, Anhäufung von Geld und Macht, einem Kulturkodex und einem gewissen sozialen Konsens. Vom strukturellen Blickpunkt aus handeln die kriminellen Gruppen innerhalb eines Systems von Beziehungen.

Welche Rolle spielen dabei die italienische Mentalität und Kultur?
Kultur und Mentalität tragen dazu bei, die Mafia-Gruppierungen zu bilden, aber sie genügen nicht als alleinige Erklärung. Diese kriminellen Organisationen sind vor allem Phänomene, die mit dem Prozess der Bildung und der Anhäufung von Macht verbunden sind. Solche Phänomene finden sich nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern: Denken sie an die Cosa nostra in den USA, die Yakusa in Japan, die Triaden in China, die kolumbianischen Kartelle und die Mafia-Gruppen der ehemaligen Ostblockländer.

Wie muss man sich ein Gesellschaftsmodell der „Cosa Nostra“, der sizilianischen Mafia vorstellen?
Von einem strukturellen Gesichtspunkt aus gesehen, handelt die Mafia in einem komplexen System von Beziehungen. Bei den tatsächlichen organisierten Verbrechern handelt es sich um einige Tausende von denen viele im Gefängnis sitzen. Das komplette Beziehungssystem aber durchzieht die gesamte Gesellschaft und bewirkt einen gesellschaftlichen Block von Hunderttausenden, der von den untersten bis zu den obersten Schichten der Bevölkerung reicht. Innerhalb dieses Blockes wird wiederum die beherrschende Rolle von einer Gruppe ausgeübt, die man als „Mafia-Bürgertum“ definieren kann. Sie besteht zum einen aus illegalen Figuren, den Mafiabossen, und zum anderen aus einem legalen Teil, also Freiberuflern, Unternehmern, Verwaltern öffentlicher Ämter, Politikern und Vertretern sonstiger Institutionen. Das „Mafia-Bürgertum“ wird durch einen kulturellen Kodex sowie gemeinsame Interessen zusammengehalten.

Gibt es hier Unterschiede zwischen den verschiedenen Mafien in Italien?
Die anderen Formen der italienischen organisierten Kriminalität sind ähnlich komplexe Phänomene mit spezifischen Eigenheiten: die ’Ndrangheta ist mehr auf die Blutsverwandtschaft gegründet, die Camorra dagegen setzt sich aus Splittergruppen zusammen, die einander ständig bekriegen.

Wie lässt sich die Macht der Mafia erklären?
Inwieweit handeln die Menschen aus Angst und inwieweit profitieren sie selbst von der Mafia?

Die Macht der Mafia gründet sich auf Einschüchterung, aber vor allem auf ein Prinzip der Vorteilnahme. Der gesellschaftliche Block und das Mafia-Bürgertum werden durch eine Art Interessengemeinschaft zementiert. Die illegale Anhäufung von Macht und Geld ist riesig und das Beziehungssystem bietet demjenigen viele Möglichkeiten, der dazu gehört oder der sich in diesem Umkreis bewegt.

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Herr Santino beim Filmgespräch "100 Schritte" im Rahmen des Symposiums der Europäischen Kulturtage 2008

Man hört, die Mafia kümmere sich nicht um den Staat. Sie erhebt selber „Steuern“ und „sorgt sich“ um ihre Mitglieder.
Was genau unterscheidet die Mafia vom Staat? Inwieweit ist sie ein Gegenmodell oder Staat im Staat oder Zeichen eines kranken Staates?

Die Mafia hat eine zweifache Beziehung mit dem Staat und den Institutionen. Einerseits erkennt sie das nationale Gewaltmonopol nicht an, weil sie ihren eigenen Regelkodex und ihre eigene Form von Gerechtigkeit hat. Mit den Erpressungen praktiziert sie eine Art paralleles Steuerwesen. Anderseits nimmt sie aktiv am politischen Leben teil und viele ihrer Tätigkeiten werden mit öffentlichen Geldern und durch Auftragsvergabe und Genehmigungen ausgeübt. Wir können sagen, dass die Mafia gleichzeitig Gegenmodell wie auch Gegner des Staates ist, der innerhalb der Institutionen existiert. Ich würde nicht von Krankheit sprechen, sondern von konkreter Ausübung von Macht.

Einer Macht, die offiziell erst seit wenigen Jahren als eine solche anerkannt wird.
Seit wann wehrt sich der Staat und was war der Anlass?

Der Staat hat erst angefangen, die Mafia-Anhänger zu bestrafen, als sich deren Gewalt direkt gegen seine Vertreter gerichtet hat. Die Antwort war das Anti-Mafia Gesetz vom 1982, das mit ca. 150 Jahren Verspätung zu einer Reihe von Prozessen und Verurteilungen führte. In Italien wurden alle Anti-Mafia Gesetze unter dem Gesichtspunkt der Dringlichkeit erlassen und angewendet, das heißt sie waren eine Antwort auf die Eskalation der Mafia-Gewalt. Diese Eskalation seit den 80er Jahren erklärt man mit dem Ansteigen der illegalen Anhäufung von Kapital und dem Wunsch nach größerem Machteinfluss. Nach der Ermordung von Dalla Chiesa 1982...
…dem als Terroristenjäger bekannt gewordenen Carabinieri General...
…und vor allem den Attentaten auf die Mafia-Jäger Giovanni Falcone und Paolo Borsellino 1992 hat der Staat mit neuen Gesetzen und mit Druck der militärischen und polizeilichen Seite geantwortet. Dennoch ist das System der Beziehungen aber zum großen Teil noch intakt.

Ihr Zentrum kann schon diverse Erfolge im Kampf gegen die Mafia für sich verbuchen.
Wie beurteilen Sie diese?

Wir haben es geschafft, Gerechtigkeit für den Mord an dem Antimafia-Politiker Giuseppe Impastato zu erhalten, nachdem er jahre-lang als Terrorist und Selbstmörder angesehen wurde. Ferner ist es uns gelungen, von der parlamentarischen Anti-Mafia Kommission einen Bericht zu erhalten, der die Irreführung von Polizei und Justiz während der Untersuchung des Mordes beschreibt.
Wir haben einen großen Teil unserer Forschungen beendet; wir arbeiten seit dem Beginn der 80er Jahren auch in Schulen; Außerdem unterstützen wir bestehende Initiativen, von den Friedensbewegungen in den 80er Jahren bis hin zur Zuweisung der von den Mafia-Leuten beschlagnahmten Häuser an Obdachlose der Stadt Palermo.
Die Grenze unseres Handels ist bedingt durch den Mangel an finanziellen Mitteln: das Zentrum hat sich selbst finanziert und das wird auch in Zukunft so bleiben, weil es uns noch nicht gelungen ist, die sizilianischen Regierung zu einem Gesetzesentwurf zu bringen, der objektive Kriterien für die Vergabe öffentlicher Gelder festlegt: Diese werden nämlich immer noch nach „persönlichen“ Kriterien bzw. nach dem Prinzip „Beziehungen“ verteilt.

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Umberto Santino im „Sizilianischen Dokumentationszentrums – Giuseppe Impastato“

Wie hat sich die Situation insgesamt verändert?
Wie kämpft man eigentlich gegen die Mafia?
Was können der Staat oder Institutionen wie die Ihre tun und was der einzelne Bürger.

Es gibt positive Zeichen. Was ständige Tätigkeiten betrifft, können wir auf das Engagement in den Schulen verweisen, auf die Bildung von Antischutzgeld-Vereinigungen und auf die Nutzung des beschlagnahmten Mafia-Besitzes für soziale Aufgaben. Doch wenn man von Demonstrationen vor allem nach Morden und Attentaten absieht, sind engagierte Menschen bis jetzt noch in der Minderheit. Der Staat muss auf den Gesichtspunkt der Dringlichkeit verzichten, der auf der Idee basiert, dass die Mafia nur existiert, wenn sie tötet, und seinen vorbeugenden und bestrafenden Handlungen kontinuierlich fortsetzen und ausweiten.
Am wichtigsten aber ist die politische Situation. Die Bürger müssen durch konstantes Engagement dafür Sorge tragen, einen alternativen gesellschaftlichen Block zu errichten. Dies ist nur möglich, wenn man die unteren Schichten der Gesellschaft beteiligt, indem man das Problem der Arbeit sowie der Kontrolle der finanziellen Mittel und der Mitbestimmung ins Zentrum stellt.

Was sind die kurzfristigen und was die langfristigen Ziele Ihres Zentrums?
Wir arbeiten weiter und hoffen, dass die Errichtung eines Zentrums zur Erinnerung an den Kampf gegen die Mafia mit zentralem Sitz in Palermo realisiert wird: mit einem historischen Museum, einer didaktischen Reiseroute, einer Bibliothek, einer Zeitschriftensammlung, einer Videothek und einem Haus der Anti-Mafia Vereinigungen. Dieses Zentrum soll ferner ein Ort für Begegnungen und für die Erarbeitung von Projekten sein.

Was wünschen Sie dem italienischen Volk?
Es möge ihm gelingen, sich von kriminellen Organisationen und von Korruption zu befreien, von der Verführung, die Lösung für Probleme einigen sogenannten "Befreiern" zu übertragen, und stattdessen eine neue Machtordnung zu erstellen. Um in diese Richtung zu gehen, muss man klare Entscheidungen treffen. Vor allem darf man keine Personen wählen, die sich durch Gesetze ad personam selber freigesprochen haben, die verurteilt wurden oder noch unter Anklage stehen. Ich fürchte, dass diese Kandidaten während der Wahl am 13. April immer noch sehr viele Stimmen bekommen werden.

Sehr geehrter Herr Santino, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.