Karlsruher Gespräche 2016
Der PEGIDA-Komplex: berechtigte Sorge, Rassismus und die Mitte der Gesellschaft
Frank Richter
Referent
Statements
1. Welche Werte halten für Sie die Europäische Union zusammen? Wie kann eine gemeinschaftliche europäische Identität zukünftig besser vermittelt werden?
Lange Zeit mochte ich den Vergleich: Der Westen und der Osten Europas sind wie zwei Flügel einer Lunge. Nach 1990 vermochte ich außerdem zu verstehen, wie sehr sich das angelsächsisch und das romanisch geprägte Europa voneinander unterscheiden. Eine gemeinschaftliche Identität Europas kann nicht entstehen, wenn sich ein Teil mit seiner Denkweise durchzusetzen versucht. Europa ist eine großartige Idee, vor der sich ihre Anhänger täglich verbeugen und die sie durch einen immerwährenden Verständigungs- und Annäherungsprozess mit Leben füllen sollten. Die Versuchung des ökonomisch starken Deutschlands besteht darin, ein deutsches Europa zu wollen, seine Aufgabe jedoch, möglichst viele andere zu integrieren und alle zu respektieren. Russland bleibt die moralische und die politische Herausforderung Europas. Europa kann sich ihr nicht entziehen.
2. Sind andere Modelle – wie etwa ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten oder eine Europäische Föderation der Regionen – vorstellbar?
Ja, natürlich. In der Politik, die bekanntlich von Menschen gemacht wird, ist immer alles Mögliche vorstellbar. Mein Wunsch freilich wäre ein anderer: Die Europäische Union möge in der aktuellen Krise zusammenbleiben, einen tragfähigen Kompromiss erarbeiten und der Welt ein Beispiel für politische Intelligenz geben.
3. Halten Sie die derzeitigen nationalistischen Bestrebungen für ein sich aus den Krisen ergebendes kurzfristiges Phänomen oder für den Beginn einer langfristigen Entwicklung?
Was sich über lange Zeit entwickelt hat, verschwindet nicht in kurzer Zeit. Die nationalistischen Bestrebungen werden weiter an politischem Terrain gewinnen, wenn die politischen Problemlösungen auf europäischer Ebene weiter auf sich warten lassen.