Blick in die Zukunft

Prof. Dr. Senja Post

Zur 50. Ausgabe des Newsletters sprachen wir im April 2023 mit der wissenschaftlichen Leiterin des ZAK, Prof. Dr. Senja Post, über Themen, Ziele und die Zukunft des ZAK.

Das Kernthema am ZAK ist der Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Wie kann das Ihrer Meinung nach gelingen?

Die Frage nach dem Gelingen hängt von den Zielen ab, die man mit einem Austausch verbindet. Als Wissenschaftlerin betrachte ich den Austausch zunächst deskriptiv. Mich interessieren gesellschaftliche Einflüsse auf die Wissenschaft sowie Einflüsse der Wissenschaft auf die Gesellschaft.

Also etwa: Prägen gesellschaftliche Erwartungen die Forschungsagenda? Wo und von wem werden einflussreiche Erwartungen artikuliert – welche Rolle spielen traditionelle Medien, welche Rolle spielen soziale Medien? Und umgekehrt: Wie fließen wissenschaftliche Erkenntnisse in gesellschaftliche Debatten oder politische Aushandlungsprozesse ein? Oder wechselseitig: Wie beeinflusst das gesellschaftliche Diskussionsklima, inwieweit Wissenschaftler sich einbringen?

Einflüsse von Gesellschaft auf die Wissenschaft oder von Wissenschaft auf die Gesellschaft können erwünscht oder unerwünscht sein. Ein Beispiel: Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse als Wissensgrundlage in gesellschaftliche Debatten und politisches Handeln einfließen, ist das natürlich generell wünschenswert. Wenn dadurch allerdings der Eindruck entsteht, Politik werde von Wissenschaftlern gemacht, dann kann das negative Folgen für die Wissenschaft haben, weil sich die Kritik der politisch Unzufriedenen dann möglicherweise nicht mehr auf die Politik, sondern auf die Wissenschaft richtet als scheinbare Verantwortliche der unliebsamen Entscheidungen. All dies sind Fragen, die mich in der Forschung beschäftigen.

Werden diese Fragen die Programmatik des ZAK beeinflussen?

Am ZAK erforschen und thematisieren wir Wechselbeziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Wir problematisieren diese Themen in der Lehre und in öffentlichen Veranstaltungen. Es herrschen in großen Teilen der Gesellschaft sowie auch in Teilen der Wissenschaft häufig verkürzte Vorstellungen von wissenschaftlicher Erkenntnis und vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik vor. So glauben zum Beispiel viele Menschen, dass Wissenschaft unumstößliche Fakten generiert. Langfristig mag das stimmen – aber da, wo gerade wissenschaftlicher Fortschritt geschieht, stimmt das ganz und gar nicht. Da funktioniert Wissenschaft eher nach dem Prinzip des Versuchs und Irrtums: Man macht Beobachtungen, stellt Hypothesen auf, macht widersprüchliche Beobachtungen, revidiert die Hypothesen, macht erneute Beobachtungen usw. Bevor sich ein Konsens herausbildet, sind wissenschaftliche Befunde in der Regel mit Unsicherheit behaftet.

Auch Wissenschaftler haben manchmal eine sehr enge Sichtweise auf gesellschaftliche Probleme und überschätzen bisweilen die Relevanz ihrer Erkenntnisse für politische Lösungen. Die Pandemie hat uns vermutlich allen das Problem sehr plastisch vor Augen geführt: Bei der Frage, ob Schulen geöffnet oder geschlossen werden sollen, sollten vermutlich nicht nur Virologen oder Epidemiologen mitreden, sondern etwa auch Jugendpsychiater und Pädagogen. Sonst besteht die Gefahr, dass wir gesellschaftliche Probleme vorrangig aus nur einer von vielen wissenschaftlichen Perspektiven wahrnehmen – also, dass wir uns etwa auf den Effekt von Schulschließungen auf das Pandemiegeschehen konzentrieren und dabei Effekte auf Schülerinnen und Schüler oder auf Familien vergessen. Eines unserer Ziele ist es, in Lehre, Forschung und öffentlichen Veranstaltungen die zahlreichen Aspekte des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu reflektieren.

Welchen Stellenwert hat die Lehre am ZAK? Was möchten Sie Studierenden vermitteln?

Wir konzipieren derzeit ein neues Begleitstudium mit dem Arbeitstitel „Wissenschaft und Gesellschaft“, das wir ab dem Wintersemester 2024/25 anbieten wollen. Das Begleitstudium soll Studierenden des KIT – also zukünftigen Entscheidungsträgern in Forschung, Entwicklung oder Management – ein Verständnis von den Austauschbeziehungen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft vermitteln: Wie läuft Politikberatung ab? Wie wählen Medien Informationen für die Berichterstattung aus und bereiten sie auf? Wie wirken öffentliche Äußerungen von Wissenschaftlern? Dazu gehört auch eine Reflektion über die Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis und ihre Abgrenzung von normativen Aussagen. Studierende sollen lernen: Was sind eigentlich wissenschaftliche „Fakten“, wie entstehen sie, wie ist wissenschaftliches Wissen begründet? Und wo endet wissenschaftliches Wissen? Was unterscheidet zum Beispiel eine wissenschaftliche von einer politischen Aussage? Für diese Inhalte sehen wir einen großen Bedarf. Unser Angebot zielt darauf ab, dass sich Expertinnen und Experten von morgen souverän in gesellschaftlichen Kontexten bewegen können, sich zum Beispiel verständlich ausdrücken, Erwartungen und Reaktionen abschätzen können und sich dabei auch der Grenzen ihrer Kompetenzen bewusst sind, also beispielweise dafür, dass politische Entscheidungen das Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse sind und nicht etwas, was man aus der Wissenschaft heraus politisch einfach implementieren kann.

Öffentliche Veranstaltungen wie KIT im Rathaus oder das Colloquium Fundamentale zeigen die Komplexität wissenschaftlicher Arbeit. Wie wichtig sind unterschiedliche Perspektiven in gesellschaftlichen Debatten und wie möchte das ZAK diese fördern?

Perspektivenvielfalt ist Voraussetzung für Erkenntnisfortschritt in Gesellschaft und Wissenschaft. Man kann das erkenntnistheoretisch und sozialpsychologisch begründen. Die Wissenschaft ist dem Ideal nach so organisiert, dass Kollegenkritik gefördert wird. Der Soziologe Robert K. Merton nennt das den „organisierten Skeptizismus“. Wir wissen allerdings aus der Sozialpsychologie, dass wir Menschen relativ unkritisch sind, wenn wir mit Tatsachenbehauptungen konfrontiert werden, die unsere eigenen Sichtweisen bestätigen. Richtig kritisch werden wir erst dann, wenn wir mit Thesen konfrontiert werden, die unsere Ansichten herausfordern. Je mehr uns eine Tatsachenbehauptung oder ein wissenschaftliches Ergebnis sozusagen „nicht passt“, desto motivierter sind wir, die unliebsame Behauptung zu widerlegen. Das kann man sich als Potenzial bei der Suche nach wahrer Erkenntnis zunutze machen und so in etwa lässt sich der organisierte Skeptizismus in der Wissenschaft dem Ideal nach auch verstehen – wobei man durchaus fragen kann, ob dieses Ideal immer eingelöst wird. Voraussetzung dafür, dass der Skeptizismus effektiv funktioniert, ist aus den erwähnten sozialpsychologischen Gründen eine Heterogenität der Sichtweisen. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie eine Heterodoxie der Sichtweisen Erkenntnis verbessert hat – denken Sie zum Beispiel an die geschlechterspezifische Medizin. Erst als genügend Frauen in der medizinischen Forschung vertreten waren, kam die heute so naheliegend erscheinende Idee auf, bestimmte Fragen zum weiblichen Körper zu stellen, die man zuvor übersehen hat. In letzter Zeit kam Kritik an den etablierten Medizinatlanten auf, weil Krankheitsbilder dort in aller Regel an Menschen mit weißer Hautfarbe aufgenommen wurden. Dies könnte die Gefahr erhöhen, dass Ärzte bestimmte Symptome auf dunkler Haut übersehen. Auch wenn Weiße diesen Missstand ohne Weiteres nachvollziehen können, ist er ihnen selbst nicht aufgefallen.

Auch in der gesellschaftlichen Verständigung über Probleme und Lösungen ist Perspektivenvielfalt wichtig – aus den gleichen Gründen. Wichtig ist aber, dass die Produktivität der Kritik ausgenutzt wird, um, wie in der Wissenschaft, sachlich zu argumentieren, die Kritik also gegen ein Argument zu richten und nicht gegen eine Person. In öffentlichen Debatten sehen wir aber häufig das Gegenteil – da werden nicht Argumente entkräftet, sondern die Urheber diskreditiert.

Für das ZAK ist die „Kunst des Streits“ oder die Kunst der Auseinandersetzung deshalb ein wichtiges Thema. Es wird Gegenstand unserer Lehre sein und ist ein Leitgedanke bei der Auswahl unserer Gäste und Konzeption unserer öffentlichen Veranstaltungen.

Seit 50 Newslettern berichten wir über Themen, Ereignisse und Veranstaltungen am ZAK. Welche Themen bewegen Sie und was würden Sie gerne am ZAK diskutieren?

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik ist ein jahrtausendealter Gegenstand geistes- und sozialwissenschaftlicher Beschäftigung. Das liegt unter anderem daran, dass sich Gesellschaften ständig wandeln durch technologische Entwicklungen und dadurch ausgelöste Veränderungen der Kommunikationssysteme, die wiederum das Verhältnis zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik beeinflussen. Auch kulturelle Veränderungen, der Zeitgeist, verändern den Stellenwert von Wissenschaft oder einzelner Disziplinen. Das bedeutet, dass man diese Fragestellungen kontinuierlich und unter gegebenen Bedingungen immer neu stellen muss. Sie werden sicher nie an Relevanz verlieren.

Derzeit spielen sie vor allem in Nachhaltigkeitsdebatten eine große Rolle und werfen etliche Fragen auf, die die breite Gesellschaft bewegen, etwa: Inwieweit darf oder soll Wissenschaft politisch sein? Können Demokratien in Krisenzeiten effektiv handeln? Deshalb werden wir das Verhältnis zwischen Wissen und Gesellschaft in nächster Zeit sicher häufig im Kontext von Nachhaltigkeitsdebatten thematisieren.

Wie wird sich das Zentrum verändern und welche nächsten Schritte stehen an?

Ich wünsche mir, dass wir das Zentrum zu einem Ort entwickeln, an dem wir unsere Inhalte nicht nur nach außen hin anbieten, sondern an dem wir uns auch nach innen hin ständig weiterentwickeln und weiter lernen – angeregt durch den Austausch untereinander sowie mit unserem Publikum, unseren Gästen und Studierenden. Momentan sind wir bei der Weiterentwicklung des Zentrums stark eingespannt. Wir sind mitten in Diskussions- und Konzeptionsprozessen. Unser Team besteht aus Personen mit wertvollen und unterschiedlichen Kompetenzen, die sich aus verschiedenen Perspektiven heraus mit Aspekten des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beschäftigen – zum Beispiel in Projekten zur Bildungsgerechtigkeit oder in Auseinandersetzungen mit Chancengleichheit in der Wissenschaft. Mein Wunsch ist, dass die Aktivitäten des Zentrums in Zukunft stärker auch auf den Expertisen einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufbauen, zum Beispiel, indem wir öffentliche Veranstaltungen zu ihren Themen ausrichten und sie in die Lehre des neuen Begleitstudiums einbeziehen. So wäre es etwa denkbar, unsere jährliche Frühlingsakademie Nachhaltigkeit einmal zum Thema Bildungsgerechtigkeit auszurichten, die ja bekanntlich eines der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen ist.