Ex Oriente Lux - Der Orient in der Literatur des deutschen Mittelalters

Inhalt

Der Orient ist wahrscheinlich das größte Faszinosum der Literatur des Mittelalters. In erstaunlich vielen erzählenden Texten ist er Teil des Handlungsraums. Dies betrifft nicht nur den sog. ‚Kreuzzugsorient‘, der seit der islamischen Expansion, der Reconquista und den Kreuzzügen den Hintergrund eines mittelalterlichen ‚clash of cultures‘ bildet. Auch der ferne Orient, in den kaum je ein Reisender des Mittelalters wirklich vordrang, ist eben wegen seiner Fremdheit Projektionsfläche aller möglicher Orientvorstellungen. Dieser ‚Mirabilienorient‘ bietet ein enorm breites Panoptikum fiktionaler Narrativierung: Er ist der Ort des Paradieses, Ursprung von Zivilisation, Herrschaft und Heilsgeschichte, er ist Abenteuerschauplatz, Bewährungsraum und faszinierende Wunderwelt, die zwischen horriblen Bildern bedrohlicher Natur und monströser Völker und Utopien idealer Gesellschaften und unermesslicher Reichtümer changiert. Die Vorlesung beschäftigt sich mit zentralen Texten der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, in denen Orientbilder evoziert werden. Alexanderroman, Herzog Ernst, Barlaam und Josaphat, Parzival und Reiseliteratur werden exemplarisch behandelt. Sie greift in bester Tradition der Einheit von Forschung und Lehre auch ein Thema auf, das in der Ausrichtung des Departments für Mediävistik seit langer Zeit einen Schwerpunkt bildet. Der Orient wurde in der Karlsruher Mediävistik nicht nur in den Arbeiten zur vormodernen Romanpoetik oder zum enzyklopädischen Erzählen behandelt, er spiegelt sich auch in der Editionstätigkeit einschlägiger Texte (Herzog Ernst, Barlaam und Josaphat) wider. Hier werden auch neuere Tendenzen der germanistisch-mediävistischen Forschung aufgegriffen: Die Vorlesung wird demnach auch theoretische Modelle des ‚Orientalismus‘ (E. Said), Identitäts- und Alteritätskonstruktionen, Postcolonial Studies (H. K. Bhabha) vormoderner Texte sowie aktuelle Diskussionen zu den transkulturellen Dimensionen mittelalterlicher Werke behandeln.

Literaturhinweise

Literaturempfehlungen: In Anbetracht des breiten Textspektrums der Vorlesung kann keine Anschaffungsempfehlung einzelner Textausgaben gegeben werden. Es empfiehlt sich jedoch, zu den Texten wenigstens die Artikel des ²VL und die Ausgabenvor- bzw. –nachworte. zu lesen. Auszüge aus der wissenschaftlichen Literatur werden auch über ILIAS bereitgestellt. Einführungen und Überblicksdarstellungen zum literaturwissenschaftlichen Hintergrund: Göttsche, Dirk / Dunker, Axel / Dürbeck, Gabriele (Hgg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart 2017 – Bremerich, Stephanie / Burdorf, Dieter / Eldimagh, Abdalla (Hgg.): Orientalismus heute. Perspektiven arabisch-deutscher Literatur- und Kulturwissenschaft, Berlin / Boston 2021. Zur spezifisch mediävistischen Dimension:  Cohen, Jeffrey Jerome: The Postcolonial Middle Ages, New York 2000 – Peters, Ursula: Postkoloniale Mediävistik?, in: Scientia Poetica 14 (2010), S. 205–237 – Auteri, Laura / Kasten Ingrid (Hgg.): Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext, Berlin/Boston 2017 – Herweg, Mathias: Alterität und Kontinuität. Vom interkulturellen Potential der germanistischen Mediävistik, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8, H. 1 (2017), S. 11-23 – Salama, Dina: Interkulturelle Mediävistik als Projekt: Perspektiven und Potentiale vormoderner Transkulturalität: ‚Herzog Ernst‘ (B) und ‚Die Geschichten aus 1001 Nacht‘, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9 (2018), S. 27–54 – Quenstedt, Falk: Mirabiles Wissen. Deutschsprachige Reiseerzählungen um 1200 im Kontext arabischer Literatur. Straßburger Alexander – Herzog Ernst – Reise-Fassung des Brandan (Episteme in Bewegung 22), Wiesbaden 2021.