The cheapest labour in the world

Hungerlöhne, schlechte Arbeitsbedingungen, mangelnde Hygiene, sexuelle Übergriffe und gravierende Sicherheitslücken prägen den Arbeitsalltag unzähliger Arbeiter(innen) in den bangladeschischen Sweatshops. Die Foto-Aktivistin Taslima Akhter kämpft mit ausdrucksstarken Bildern für die Rechte der „billigsten Arbeitskräfte der Welt“. Entsprechend bildgewaltig fiel auch ihr Beitrag zu den 18. Karlsruher Gesprächen im Februar aus, dessen Zentrum die Menschen hinter den Konsumgütern bildeten. Von Sannah Mattes.

Bangladesch ist nach China der zweitgrößte Textilproduzent der Welt. Rund 80 Prozent aller Exporte des Landes werden in den zahlreichen Textilfabriken produziert. Doch obwohl seine Wirtschaft stetig wächst, handelt es sich bei dem Entwicklungsland um eines der ärmsten Länder der Welt. Wer hier überleben will, ist gezwungen, sich einem maroden System zu unterwerfen, das Menschenleben gegen Warenwerte aufrechnet und Kinderarbeit als profitsteigernde Notwendigkeit ansieht. Allein im vergangenen Jahr starben im April über Tausend Menschen bei dem Einsturz des Rana Plaza Buildings in der Nähe der Landeshauptstadt Dhaka, in dem neben einer Bank und Geschäften auch mehrere Textilfabriken untergebracht waren. Daneben fordern immer wieder Brandkatastrophen Opfer unter den Textilarbeitern.

Doch es geht um weit mehr als um Zahlen anonymer Opfer. Dies zu verdeutlichen hat sich Taslima Akhter zum Ziel gemacht. Bereits seit einigen Jahren dokumentiert sie den Überlebenskampf der ‚Garment Workers‘ und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Mit ihrer Kamera begibt sie sich auf Spurensuche nach den Schicksalen der Menschen, ihren unerfüllten Träumen, Sehnsüchten und Hoffnungen. Besonders ein Bild der Künstlerin ging um die Welt. Es zeigt ein engumschlungenes Paar in den Trümmern des Rana Plaza Fabrikgebäudes – vereint im Tod.

Als Fotojournalistin will die Künstlerin allerdings nicht gesehen werden. Ihr berühmtestes Bild entwickelte sich zum Selbstläufer, nachdem sie es mit anderen Bildern auf ihrer Facebook-Seite hochgeladen hatte und das Geld, das sie seither mit der Aufnahme einnimmt, spendet sie den Näherinnen. Fotografie ist für sie mehr als ein lukratives Geschäft, es ist politisches Instrument und Medium der Kommunikation, das den Blick für die globalen Missstände öffnet. Die Welt solle hinschauen, das Leid sehen, so Akhter im Interview mit Spiegel-Online.

Sucht man nach den Verantwortlichen für die katastrophalen Bedingungen in den Textilfabriken, wird schnell das gigantische Ausmaß des Problems deutlich, das die korrupte Politik Bangladeschs ebenso einschließt, wie die großen westlichen Modekonzerne und das selbst vor dem privaten Endverbraucher nicht Halt macht. Vor einem Boykott der Textilien ‚Made in Bangladesh‘ warnte Akhter in ihrem Vortrag in Karlsruhe dennoch ausdrücklich, da dieser den Arbeitern in den Fabriken eher schade als nutze und ihnen schlimmstenfalls die Lebensgrundlage nehme.

Eine langfristige Optimierung der Arbeitsverhältnisse lässt sich nur erreichen, indem die Internationalität des Problems (an-)erkannt wird und endlich verbindliche, durchsetzbare und transparente Regelungen in Kraft treten, die die Sicherheit der Arbeitskräfte garantieren und zur Verbesserung der Lebensstandards beitragen. Mit einem nachhaltigen Konzept, das den Arbeitern neben Lohnerhöhungen auch grundlegende Gewerkschaftsrechte einräumt, entstünde zudem eine Win-win-Situation für alle Beteiligten. Denn verbesserte Arbeitsbedingungen „könnten zu einer höheren Produktivität der Wirtschaft Bangladeschs führen sowie zu einem demokratischen Wandel der bangladeschischen Gesellschaft“, schlussfolgerte Akhter in ihrem Vortrag. Nur ein globaler Zusammenschluss garantiert den Zugang zur Demokratie für alle, auch die Fabrikarbeiter.

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Die zahlreichen Facetten der Transparenz

Der vierte und letzte Tag der Karlsruher Gespräche startete mit der großen Podiumsdiskussion zum Thema „Wie viel Transparenz und Vertrauen braucht die Welt(markt)gesellschaft?“. Unter der Leitung von Markus Brock kam eine spannende Diskussion zum Thema Transparenz im Internet, in der Konsumgesellschaft und der Politik zustande. Robert Zetzsche fasst zusammen.

Der volle Durchblick. Wo existiert er und wo muss er noch geschaffen werden? (Foto: Günther Gumhold/pixelio.de)
Der volle Durchblick. Wo existiert er und wo muss er noch geschaffen werden? (Foto: Günther Gumhold/pixelio.de)

Im Sparda-Event-Center fand im Rahmen der Karlsruher Gespräche die große Podiumsdiskussion zum Hauptthema statt. Unter der Moderation von Markus Brock trafen am Sonntagmorgen die Vorsitzende von Transparency International Deutschland, Prof. Dr. Edda Müller, Prof. Dr. André Habisch, Professor für Christliche Sozialethik und Gesellschaftspolitik der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, der Geschäftsführer der Triodos Bank (Niederlassung Deutschland) Georg Schürmann und der Akademische Koordinator des Jean Monnet Centre of Excellence der Universität Padua, Prof. Dr. Léonce Bekemans zusammen. Es folgte eine weitreichende knapp zwei stündige Diskussion über die Transparenz in der Politik, der Konsumgesellschaft und dem Internet.

Transparenz und das Internet

Nach der Vorstellung der Protagonisten startete die Veranstaltung mit der Definition von Transparenz. Den Startpunkt der Diskussion stellte das aktuelle Thema des Datenhandels im Zusammenhang mit dem Internet dar. Dabei wurden sehr viele Nachteile und sehr wenige Vorteile des neuen Mediums genannt. Lediglich Herr Habisch sprach von einer Möglichkeit des Konsumenten selbst nach Firmen zu recherchieren und seine Entscheidungen abhängig von diesen Ergebnissen zu machen. Dabei betonte er, dass diese Möglichkeiten vor 20 Jahren nicht existierten. Dennoch wurde das „Misstrauen“ gegenüber Firmen und vor allem Internetfirmen gepredigt.

In der späteren Diskussion folgte zudem das Aufgreifen des „Shitstorm“ als Internetphänomen, eine Form der wütenden Proteste in sozialen Medien gegen Entscheidungen oder Aktionen einer Person oder Firma. Im Verlauf der Diskussion wurde diese Form des Protests als nicht zielfördernd eingeordnet, da sie keinen aktiven Beitrag leistet sondern lediglich bemängelt. Vergessen wurde dabei komplett, dass sich aus dieser Form des Protests viele organisierte Demonstrationen entwickelten.

Transparenz und die Konsumgesellschaft

Bei der Transparenz in der Konsumgesellschaft konzentrierten sich die Beiträge auf das „Wie wird produziert?“ und „Wo wird produziert?“. Herr Bekemans sah die Hauptlösung in der Bildung von Mensch und Gesellschaft, die er als Allheilmittel oft betonte. Prof. Dr. Edda Müller widersprach dem Gedanken, dass Bildung allein reiche, da es beispielsweise keine direkte Wahlfreiheit bei Konsumgütern gebe. Der Produktionsstandort von Produkten wird unter anderem von Lohndumping bestimmt. Diesen Zustand rügte sie hart und forderte ein Eingreifen der Politik. Sie betonte zudem die Wichtigkeit der Bewusstseinsänderungen und des Zusammenspiels zwischen Politik, Bürger und Wirtschaft. Anschließend verlor sich die Diskussion etwas in der Bewertung des deutschen Mittelstands und derer möglichen konzeptionellen Übertragbarkeit auf andere europäische Länder.

Auch die Finanzebene kam bei der Diskussion nicht zu kurz, obwohl sie einen etwas kleineren Platz eingeräumt bekam und lediglich von Herrn Schürmann vorangetrieben wurde. Er erklärte die Praktiken der Triodos-Bank und warum diese Transparenz gewährleiste. Insgesamt stellt die Finanzwirtschaft jedoch nach wie vor einer der intransparentesten Wirtschaftszweige dar.

Transparenz und die Politik

Die letzte Komponente der Podiumsdiskussion befasste sich mit der Transparenz in der Politik. Dabei waren alle Redner einer ähnlichen Meinung und Überzeugung, wodurch der Bürger das Recht und die Pflicht hat mitzureden und seine Politiker auch in dieser Art und Weise zu formen. Auch dort spielte die These der Bildung eine zentrale Rolle. Zudem wurde der Widerspruch zwischen regionalen und globalen Handeln aufgezeigt, der beispielsweise durch die Globalisierung und der regionalen Organisationsstruktur (Mittelstand, Volksbanken, Bundesländer) in Deutschland zustande kommt. Aus den Redebeiträgen wurde zum Schluss resümiert, dass Menschen gemäß dem Paradigma „global denken, regional handeln“ agieren sollten.

Fazit

Die spannende knapp zwei stündige Podiumsdiskussion sprach verschiedene Themen in Verbindung mit Transparenz an. Es folgten interessante Redebeiträge zu verschiedenen Themen. Sie folgte einem nicht-linearen Ansatz und entwickelte sich in eine sehr politische Richtung. Obwohl die Gesprächspartner ungewohnt weit auseinander saßen, trafen relativ ähnliche Meinungen aufeinander. Durch die Auswahl der Gesprächspartner und derer Aussagen, wurde eine konservative Sicht der Dinge vermittelt und präsentiert. Die Veranstaltung endete mit dem Aufruf zur Europawahl und der Betonung der Wichtigkeit dieser Wahl und dem Resümee, dass alle Einflussfaktoren ineinander fließen müssen um Transparenz zu erreichen und Einfluss nehmen zu können.

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Kein Brot, aber Spiele?

Die WM in Brasilien rückt immer näher und die Marketingmaschinerie läuft auf Hochtouren. Heiß, aufregend und bunt soll es werden, das Fußballspektakel in den Tropen. Doch die Wahrheit hinter den klischeehaften Kulissen sieht anders aus. Das sportliche Großereignis führt zu tiefschürfenden Transformationsprozessen, die das Land an seine Grenzen bringen. Am Beispiel Rio de Janeiros gewährte Dr. Dawid Danilo Bartelt, Leiter des Brasilienbüros der Heinrich Böll-Stiftung, den Besuchern der 18. Karlsruher Gespräche einen Einblick in die Realität fernab der Medien. Ein Interview von Sannah Mattes.

Dr. Dawid Danilo Bartelt, Leiter des Brasilienbüros der Heinrich Böll-Stiftung (Bild: ZAK / Felix Grünschloß)
Dr. Dawid Danilo Bartelt, Leiter des Brasilienbüros der Heinrich Böll-Stiftung (Bild: ZAK / Felix Grünschloß)


Audiolink: Sannah Mattes im Interview mit Dr. Dawid Danilo Bartelt

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Wenn Steine fliegen und Stempel sprechen

In der Ukraine kämpften tausende Menschen gegen ihre repressive Regierung um sich politisch der EU anzunähern. In dem Gewinnerstück des europäischen Wettbewerbs „Über Grenzen sprechen“ fängt Dmytro Ternovyi Stimmen und Stimmungen des Maidan Platz in einer politischen Komödie ein. Konstantin Maier hat sich sein Stück angschaut.

Eine Frau sitzt auf dem Bett und telefoniert. Die Sachlage scheint kompliziert, es geht um Bescheinigungen, Anträge und ihren Freund. Plötzlich erscheint ein Flüchtling und bittet um Asyl. Er wird verfolgt. Die Frau ist überrumpelt, doch versteckt den Flüchtling. Als eine Nachbarin und später ein Offizier zu einer Befragung auftauchen, wird es immer komplizierter und abstruser. Wer versteckt sich wo und vor wem?

Sie will nur das Visum für die Reise ihres Chors beantragen, hinter ihr warten Ordner und Aktentasche
Sie will nur das Visum für die Reise ihres Chors beantragen, hinter ihr warten Ordner und Aktentasche

Stimmen des Maidan

In dem Stück „Hohe Auflösung“ verarbeitet der ukrainische Autor die brandaktuellen Entwicklungen am Maidan, einem Platz in der Hauptstadt Kiew auf dem sich Tausende Bürger angesammelt haben, um gegen ihre Obrigkeit zu protestieren. „Ich bin kein Politikexperte oder Geschichtswissenschaftler“, sagt der Autor Dmytro Ternovyi in der anschließenden Diskussion, „ich bin nur ein einfacher Mensch, der dass verarbeitet was passiert“. Das Stück erzählt die Geschichte eines jungen Paars. Andrej ist Spitzenmusiker und möchte durch Europa reisen. Was für uns eine Selbstverständlichkeit ist, das freie Bewegen innerhalb der Staaten des Schengener Abkommens, gestaltet sich für Andrej zu einem Problem. Gerade in der angespannten Situation, schient ein Visum unmöglich. Bezeichnend hierfür ist die Szene im Konsulat: eine Frau versucht dem „Bürokratieberg“ gerecht zu werden, um mit einem Chor nach Deutschland reisen zu können. Doch so sehr sie sich bemüht, irgendwo fehlt immer eine Unterschrift, ein richtiges Datum oder der entscheidende Stempel.

Politik mit Humor begegnen

Dmytro Ternovyi verarbeitet die Geschehnisse mit ins Surreale abkippendem Humor. Wenn sich Teekanne mit Tassen unterhalten oder Aktenordner und Stempel zu diskutieren beginnen, wird es kafkaesk. Backsteine des Maidan sprechen miteinander und wundern sich, was der ganze Trubel auf ihren Köpfen zu bedeuten hat, bis der erste von ihnen durch die Luft fliegt. Der Dramturg Micheal Gmaj erzählt im Autorengespräch von seien Erlebnissen auf dem Maidan: „Dort findet unheimlich viel Humor und Satire statt. Überall sind verkleidete Menschen und satirische T-Shirt-Aufdrucke zu sehen.“ „Humor ist eine Art mit den Dingen umzugehen, eine speziell ukrainische“, meint der Autor. Doch auch Gewalt wird in der anschließenden Diskussion zum Thema, so heißt beispielsweise ein Zuschauer die Gewalt der Protestierenden nicht gut: „Ich sehe die Bilder aus meiner Heimat und die Gewalt dort macht mich traurig“. Der Autor erwidert, dass erst viel passieren musste, bis Gewalt von den Protestierenden ausging. Die Forderung wurden einfach nicht erhört.

Beim anschließenden Autorengespräch:(v.r.n.l.) Prof. Dr. Caroline Y. Robertson-von Trotha (Direktorin des ZAK), Dmytro Ternovyi (Autor) mit Übersetzerin und Dramaturg Michael Gmaj
Beim anschließenden Autorengespräch:(v.r.n.l.) Prof. Dr. Caroline Y. Robertson-von Trotha (Direktorin des ZAK), Dmytro Ternovyi (Autor) mit Übersetzerin und Dramaturg Michael Gmaj

Ist Gewalt notwendig?

Als prägnantes Beispiel für die Art und Weise, wie Gewalt praktiziert wird, erzählt Ternovyi, wie die Fensterscheiben eines Rathauses eingeschmissen wurden, weil die Regierung unbeeindruckt von einem Ultimatum war. Am Tag darauf haben jedoch de gleichen Leute die Fensterscheiben des Rathauses wieder ersetzt. Die Gewalt sei für ihn insofern nachvollziehbar, als dass die Menschen nicht gehört werden. Leider ist der Weg der Gewalt, bei solchen Umwälzungen oft unumgänglich, da kein Machthaber seine Macht freiwillig aufgibt. Wie sich das Land weiterentwickelt sei überhaupt nicht abzusehen. „Das wichtigste ist das die Leute jetzt miteinander kommunizieren“ sagt Dmytro Ternovyi. Die Premiere des Stücks wird am 09. Juni 2014 im Badischen Staatstheater uraufgeführt.

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Ingo Schulze über den globalen Markt

Am Sonntag, 16. Februar 2014, las Ingo Schulze im Rahmen der Karlsruher Gespräche im Studio des Badischen Staatstheaters eine Passage aus seinem Erzählband 33 Augenblicke des Glücks und das Vorwort seiner jüngsten Veröffentlichung Unsere schönen neuen Kleider. Hoai Thuong führte nach der Lesung mit dem Autor ein persönliches Gespräch über die Weltmarktgesellschaft.

Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)
Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)

„Des Kaisers neue Kleider“ – Wann haben Sie das Märchen zum ersten Mal gehört oder gelesen und was hat Ihnen dabei besonders gefallen?

Natürlich als Kind, wie wohl die meisten von uns. Wie ich damals darauf reagiert habe, weiß ich nicht mehr, aber es wird mir wohl gut gefallen haben. Vielleicht fand ich das Märchen auch zu unwahrscheinlich. Womöglich hatte es mich gefreut, dass ein Kind der vermeintliche Held dieser Geschichte ist. Später dachte ich, ich kenne das Märchen gut. Aber wenn man es noch einmal aufmerksam liest, entdeckt man plötzlich so viel. Und der Schluss ist doch ganz anders, als es die allermeisten in Erinnerung haben: Der Kaiser glaubt zwar, dass das Volk recht habe, aber er meint, nun weiter durchhalten zu müssen. Und sein Hofstaat tut es ihm gleich. Wobei ich mir sicher bin, dass sich durch den Ruf des Kindes und letztlich durch den Ruf des Volkes schon etwas verändern wird: Der Kaiser geht fortan anders durch die Welt.

Sie haben das Märchen später bestimmt immer wieder gelesen, oder? Denn Sie haben es dann in Ihr Buch eingebaut.

Es war die Überlegung, dass etwas, das eigentlich offensichtlich ist, nicht als offensichtlich wahrgenommen wird. Das war der Ansatz, dieses Märchen nochmal zu lesen.

Wir können die Rollen frei wählen

Wer spielt für Sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft die Rolle des Königs, wer die der Dienerschaft und wer könnte das Kind sein?

Wenn man Demokratie beim Wort nimmt, dann sind wir alle der König – Wir Wähler und Bürger dieses Landes. Wir haben uns etliche neue Kleider verpassen lassen. Diese neuen Kleider können „Wachstum um jeden Preis“ heißen, sie können „Privatisierung um jeden Preis“ heißen. Auf jeden Fall heißen sie nicht: „Was wollen wir? Was ist gut für uns?“. Also, insofern sind wir der Souverän, der König, der sich anschmieren lässt. Aber wir könnten auch die anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück!

Dann möchte ich gleich den Begriff „Privatisierung“ aufgreifen. In Ihrem Buch verwenden Sie dieses Wort als Gegenbegriff für „Gemeinwesen“. Bedeutet für Sie mehr Gerechtigkeit also auch mehr Gemeinschaft und weniger Individuum?

Die Schwierigkeit ist, dass man bei der Privatisierung fragen muss, wo sie sinnvoll und wo sie nicht sinnvoll ist. Dort, wo es Monopolsituationen gibt, ist Privatisierung Unsinn – also bei der Wasser- und Stromversorgung. Es gibt auch Bereiche, wo ich es unwürdig finde, zu privatisieren. Gerade bei der Bildung und beim Gesundheitswesen ist es oft fragwürdig, marktwirtschaftlich denken zu müssen. Wenn Sie zum Beispiel immer fragen müssen: Was bringt mir dieser Patient? Der Patient wird zum Kunden und das halte ich für etwas ganz Fragwürdiges, das lehne ich ab. Man fragt ja auch nicht den Pfarrer, wie viele Beerdigungen er gemacht hat. Wenn man bei der Feuerwehr sagen würde, je mehr Brände es gibt, desto mehr Geld bekommt ihr, würden dann nicht Feuerwehrleute auch einen Brand legen? Ich glaube nicht, dass „privatisiert“ immer gut ist und „nicht privatisiert“ immer schlecht. Man muss grundsätzlich darüber reden. Es gibt da auch Grenzbereiche, zum Beispiel in der Rüstung oder in der Pharmazie.

Es ist leicht den Verstand zu verlieren

Fragwürdig finden Sie ja auch den Begriff der „marktkonformen Demokratie“. Mit welchen Wörtern würden Sie aber einen „demokratiekonformen Markt“ beschreiben?

Im demokratiekonformen Markt spielt die anzustrebende Gerechtigkeit eine große Rolle. Grundsätzlich ist nachzudenken, was unsere Gesellschaft braucht und was nicht. Sicherlich darf so etwas nicht diktatorisch entschieden werden, aber man kann bestimmte Dinge auch über Steuern regeln. Nicht jeder Quatsch, der Rohstoffe kostet, muss zu Billigpreisen aus China eingeführt werden. Demokratiekonforme Märkte haben sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun, aber eben auch mit der Frage „Was brauchen wir eigentlich für Güter und wo kommen sie her?“. Viele Rohstoffe, gerade für die Handy- oder Computerproduktion, kommen aus sogenannten Konfliktzonen. Wenn man sich vor Augen hält, was da eigentlich passiert, verliert man den Verstand.

Sehen Sie im Fair-Trade-Handel eine Lösung?

Fair-Trade ist ja schon ein Markenzeichen geworden. Aber natürlich, ob ich das nun gerechten oder fairen Handel nenne, zeigt gerade der Begriff wie marginal diese Art Handel ist. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein.

Das wollen wir und das wollen wir nicht

Der „Markt“ ist ja auch ein Thema der diesjährigen Karlsruher Gespräche. Wie ist denn Ihre Meinung zum globalen Markt und sehen Sie auch Vorteile oder Chancen in der Globalisierung?

Die Frage ist, was ist heute noch Markt. Das, was wir bisher unter „Markt“ und „Börse“ verstanden haben, ist sehr marginal geworden. Wenn die Verweildauer einer Aktie bei 22 Sekunden liegt und die Computerprogramme bei deren Verkauf und Kauf mit Nanosekunden rechnen, dann hat das natürlich nichts mehr mit „Markt“ zu tun. Das ist nur noch Spekulation. Und Spekulationen sind nicht unbedingt etwas, das dem Gemeinwesen gut tut. Als Gemeinwesen sollten wir sagen, das wollen wir und das wollen wir nicht. Man hat an der Finanzkrise gesehen, wie schnell sogar Banken verstaatlicht werden konnten. Die Regeln können geändert werden, auch wenn das nicht einfach ist, weil es Interessensgruppen gibt. Ich frage mich nur, warum man einer verschwindenden Minderheit erlaubt, zu spekulieren, obwohl man weißt, dass es für die Mehrheit nicht gut ausgeht.

Sie haben gegen Ende 2013 einen Aufruf gegen die große Koalition gestartet. Stellen wir uns mal vor, eine Koalition zwischen der SPD, den Grünen und den Linken wäre zustande gekommen. Wie würde sich der Markt denn unter dieser Regierung entwickeln?

Ich bin skeptisch geworden, oder sagen wir mal so: Parteien verhalten sich im Wahlkampf anders, in der Opposition anders und als Regierungsparteien anders. Aber ich habe da einerseits keine Illusionen und anderseits glaube ich, dass in einer rot-rot-grünen Konstellation die Chance größer ist, bessere und auch gerechtere Gesetze zu machen. Aber was wäre wenn, ist schwer einzuschätzen. Gerade die SPD hat als Regierungspartei oftmals eine Politik verfolgt, die gar nichts mehr mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hatte. Die sozial-ökonomische Polarisierung dieser Gesellschaft ist leider gerade unter Rot-Grün enorm vorangetrieben worden. Es ist zwar keine Sache, die mit großem Hurra passierte. Aber bis heute hat man nicht wirklich anerkannt, welchen Mist man gebaut hat.

Zum Schluss habe ich noch eine Frage über die Zukunft. Wie geht es Ihrer Meinung nach mit der Weltmarktgesellschaft weiter? Welche Themen werden unsere Gesellschaft in fünf oder zehn Jahren beschäftigen?

Es fällt mir ganz schwer, darauf zu antworten. Weil es natürlich eine Entwicklung gibt, die diesem ganzen Wahnsinn noch verstärkt. Es geht immer mehr, oder ausschließlich, um Profit. Ob es nun heute oder in zehn Jahren ist – es ist heute genauso falsch wie eben in zehn Jahren. Je länger diese Einstellung besteht, umso mehr Unglück verursacht sie und umso mehr unwürdige Verhältnisse produziert sie – unsinnige Verhältnisse. Ob jemand eine Milliarde hat oder zehn Milliarden, spielt letztlich keine Rolle für das Privatleben desjenigen. Aber ihm oder ihr wächst dadurch eine ungeheure Macht zu. Ob diese dann verantwortungsvoll genutzt wird, ist sehr fraglich, vor allem, wenn sie unkontrolliert genutzt wird.

Herr Schulze, vielen Dank für das Gespräch!

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