WikiLeaks und die drei Weisen Affen

Wenn die großen Männer das Spiel der Könige spielen, sollte man wegsehen, keine Aufmerksamkeit auf sich lenken und es vermeiden, anderen davon zu berichten. Manche missachten diese Regel. Mit allen Konsequenzen. Von Carolin Thal

Jeder kennt das Bild der drei Weisen Affen, die sich Augen, Ohren und den Mund mit den Händen verschließen. Sie wollen das Böse weder sehen noch hören und erst recht nicht darüber sprechen. In Asien ursprünglich als Zeichen von Weisheit gedeutet, wurden die Affen bei uns zu einem Symbol für einen Menschen, der die Wahrheit nicht wahrhaben will. Doch wo man die Wahrheit nicht sehen will, kann man keine Veränderungen bewirken.

„Verzeihung, Sie haben da ein Leck“

Dieser Ansicht ist auch die Internet-Plattform WikiLeaks. Sie wurde 2006 mit dem Ziel gegründet, eine Quellensammlung für Journalisten zu werden. Die Plattform will Dokumente veröffentlichen, die ein Informant nicht selbst publik machen kann, ohne Schaden zu nehmen. Die meist geheimen Einsendungen werden geprüft und veröffentlicht, sobald ihre Authentizität nachgewiesen wurde.

Dass diese Quellensammlung letztendlich vor ein breiteres Publikum treten konnte, verdankt sie nicht nur ihren brisanten Dokumenten. Informanten schätzen die Plattform für die Anonymität, die ihnen garantiert wird. Selbst die Mitarbeiter der Plattform wissen nicht, wessen Dokument sie bearbeiten.

Ende 2010 hat WikiLeaks so viel Staub aufgewirbelt, dass viele Staatsbeamte daran zu ersticken glauben und Gegenmaßnahmen einleiten. WikiLeaks-Mitarbeiter ziehen es inzwischen vor, anonym zu bleiben – sie fühlen sich bei ihrer Arbeit bedroht. Aber wie ist es so weit gekommen, dass ihre Sprecher ein Nomadendasein führen, ihren Namen in der Öffentlichkeit verändern und sich auf der Flucht vor Geheimdiensten wähnen?

Krieg als Spiel

Diese Geschichte beginnt im April 2010 mit der Veröffentlichung eines Videos, das einen Mitschnitt aus einem Helikoptereinsatz in Afghanistan zeigt. Darin sind US-Soldaten zu hören, die sich wie in einem Computer-Spiel darüber unterhalten, wie viele Menschen sie gerade „abknallen“. Am Ende des Videos, das unter dem Titel „Collateral Murder“ bekannt wurde, wird deutlich, dass es sich bei den erschossenen Personen um unbewaffnete Zivilisten handelte, darunter zwei Journalisten.

Tausende Dokumente aus Afghanistan bezeugen einen Krieg, wie er nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte.
Tausende Dokumente aus Afghanistan bezeugen einen Krieg, wie er nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte.

Die Veröffentlichung schlägt Wellen, der Clip verbreitet sich im Internet. Das Bild des schwarzweiß gezeichneten Afghanistan-Krieges bekommt Risse. Plötzlich nehmen überall Menschen ihre Hände von Augen und Ohren.

Doch das ist nur der erste Akt des Schauspiels, das WikiLeaks der Welt bietet.

Vorhang auf für Afghanistan

Im Juli stellt die Plattform die „Afghanistan-Protokolle“ online, einen Mitschnitt aus dem Krieg, in dem die westlichen Truppen keine gute Figur machen. WikiLeaks wird endgültig zur internationalen Debatte. Die US-Regierung gibt Erklärungen an die Presse ab, in denen sie die Aktualität der Dokumente bestreitet. Das Nomadendasein des WikiLeaks-Gründers und Sprechers Julian Assange wirkt plötzlich nicht mehr albern. Geheimdienste haben einen Blick auf ihn geworfen, doch WikiLeaks macht weiter.

Ende August folgt ein vergleichsweise kleines Memorandum aus dem CIA-Hauptquartier, das jedoch deutlich macht, dass selbst Geheimdienste nicht vor Lecks sicher sind. WikiLeaks scheint unantastbar, selbst für die mächtigsten Männer der Welt.

Der Versuch ein Leck zu stopfen

Dann jedoch beginnt die Plattform zu wackeln. Vorträge des Mitbegründers und Sprechers Julian Assange werden kurzfristig von einem anderen Mitarbeiter gehalten, weil die Gefahr einer Festnahme besteht. Ein Programmierer, der sich auf einem Vortrag zu WikiLeaks bekennt, wird bei seiner Rückreise in die USA am Flughafen festgenommen.

Schweden stellt einen Haftbefehl auf Assange aus, weil er zwei Frauen vergewaltigt haben soll. Der Haftbefehl wird wenige Stunden später zurückgenommen, doch die Anzahl der Länder, in die Assange gefahrlos reisen kann, schwindet. In WikiLeaks-Kreisen heißt es, Geheimdienste hätten die Sache eingefädelt. Kurz darauf zerstreitet sich Assange mit seinem Sprecher Daniel Schmitt. Die anschließende Suspendierung zeugt von internen Querelen.

Trotzdem folgt die nächste Veröffentlichung.

Der Fall Irak

Im Oktober erscheinen Dokumente über den Irakkrieg. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass vom Westen angeheuerte Söldner das Chaos im Kriegsgebiet vergrößerten, dafür aber kaum zur Rechenschaft gezogen wurden. Es tauchen Schriftstücke auf, in denen die Rede von US-Soldaten ist, die Befehl hatten, nicht einzugreifen, während irakische Sicherheitskräfte Gefangene folterten.

Hackerangriffe von Unbekannten zwingen die Enthüllerplattform immer öfter in die Knie. In vielen Ländern wird WikiLeaks von den Servern verbannt.
Hackerangriffe von Unbekannten zwingen die Enthüllerplattform immer öfter in die Knie. In vielen Ländern wird WikiLeaks von den Servern verbannt.

Die Fronten der Regierungen gegen WikiLeaks verhärten sich. Mitarbeiter des US-Außenministeriums schlagen vor, die Angestellen von WikiLeaks in den Status „unrechtmäßige feindliche Kämpfer“ einzuordnen, der bisher Al-Qaida-Kämpfern vorbehalten war. Was WikiLeaks tue, habe nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, sondern sei politische Kriegsführung gegen die USA. Auch ein elektronischer Anschlag auf die Plattform stand zur Debatte.

Die Plattform hat trotzdem bereits neue Dokumente angekündigt. Insbesondere aus Russland und China sei Material eingegangen. Der russische Geheimdienst hat bereits vor diesem Schritt gewarnt.

Die Heimkehr der Affen

Es wäre weise, die Warnung zu beachten und zu schweigen, doch WikiLeaks wird auch dieses Mal mit diesem Prinzip brechen. Aber bei aller Brisanz – die Affen kommen immer zu dritt. Zukunft hat das Projekt nur, wenn es weiter Menschen gibt, die auch die Prinzipien der ersten beiden Weisen missachten, indem sie bewusst sehen und hören.

Assange ist zuversichtlich: „Mut ist ansteckend!“ Das kann man gerade in China beobachten. Eine kleine Gruppe hat dort eine Website aufgesetzt, die dazu aufruft, Interna der Partei an die Öffentlichkeit zu bringen. Die so enttarnten Missstände werden auf einer WikiLeaks-ähnlichen Plattform ausgestellt.

Die chinesischen Amtsträger werden von der Rückkehr der Weisen Affen aus dem Westen nicht begeistert sein. Und erst recht nicht von dem, was ihnen dort beigebracht wurde. Doch was man einmal gelernt hat, verlernt man nicht. Und ein Leck, das keiner finden kann, ist schwierig zu schließen.

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