Wenn Steine fliegen und Stempel sprechen

In der Ukraine kämpften tausende Menschen gegen ihre repressive Regierung um sich politisch der EU anzunähern. In dem Gewinnerstück des europäischen Wettbewerbs „Über Grenzen sprechen“ fängt Dmytro Ternovyi Stimmen und Stimmungen des Maidan Platz in einer politischen Komödie ein. Konstantin Maier hat sich sein Stück angschaut.

Eine Frau sitzt auf dem Bett und telefoniert. Die Sachlage scheint kompliziert, es geht um Bescheinigungen, Anträge und ihren Freund. Plötzlich erscheint ein Flüchtling und bittet um Asyl. Er wird verfolgt. Die Frau ist überrumpelt, doch versteckt den Flüchtling. Als eine Nachbarin und später ein Offizier zu einer Befragung auftauchen, wird es immer komplizierter und abstruser. Wer versteckt sich wo und vor wem?

Sie will nur das Visum für die Reise ihres Chors beantragen, hinter ihr warten Ordner und Aktentasche
Sie will nur das Visum für die Reise ihres Chors beantragen, hinter ihr warten Ordner und Aktentasche

Stimmen des Maidan

In dem Stück „Hohe Auflösung“ verarbeitet der ukrainische Autor die brandaktuellen Entwicklungen am Maidan, einem Platz in der Hauptstadt Kiew auf dem sich Tausende Bürger angesammelt haben, um gegen ihre Obrigkeit zu protestieren. „Ich bin kein Politikexperte oder Geschichtswissenschaftler“, sagt der Autor Dmytro Ternovyi in der anschließenden Diskussion, „ich bin nur ein einfacher Mensch, der dass verarbeitet was passiert“. Das Stück erzählt die Geschichte eines jungen Paars. Andrej ist Spitzenmusiker und möchte durch Europa reisen. Was für uns eine Selbstverständlichkeit ist, das freie Bewegen innerhalb der Staaten des Schengener Abkommens, gestaltet sich für Andrej zu einem Problem. Gerade in der angespannten Situation, schient ein Visum unmöglich. Bezeichnend hierfür ist die Szene im Konsulat: eine Frau versucht dem „Bürokratieberg“ gerecht zu werden, um mit einem Chor nach Deutschland reisen zu können. Doch so sehr sie sich bemüht, irgendwo fehlt immer eine Unterschrift, ein richtiges Datum oder der entscheidende Stempel.

Politik mit Humor begegnen

Dmytro Ternovyi verarbeitet die Geschehnisse mit ins Surreale abkippendem Humor. Wenn sich Teekanne mit Tassen unterhalten oder Aktenordner und Stempel zu diskutieren beginnen, wird es kafkaesk. Backsteine des Maidan sprechen miteinander und wundern sich, was der ganze Trubel auf ihren Köpfen zu bedeuten hat, bis der erste von ihnen durch die Luft fliegt. Der Dramturg Micheal Gmaj erzählt im Autorengespräch von seien Erlebnissen auf dem Maidan: „Dort findet unheimlich viel Humor und Satire statt. Überall sind verkleidete Menschen und satirische T-Shirt-Aufdrucke zu sehen.“ „Humor ist eine Art mit den Dingen umzugehen, eine speziell ukrainische“, meint der Autor. Doch auch Gewalt wird in der anschließenden Diskussion zum Thema, so heißt beispielsweise ein Zuschauer die Gewalt der Protestierenden nicht gut: „Ich sehe die Bilder aus meiner Heimat und die Gewalt dort macht mich traurig“. Der Autor erwidert, dass erst viel passieren musste, bis Gewalt von den Protestierenden ausging. Die Forderung wurden einfach nicht erhört.

Beim anschließenden Autorengespräch:(v.r.n.l.) Prof. Dr. Caroline Y. Robertson-von Trotha (Direktorin des ZAK), Dmytro Ternovyi (Autor) mit Übersetzerin und Dramaturg Michael Gmaj
Beim anschließenden Autorengespräch:(v.r.n.l.) Prof. Dr. Caroline Y. Robertson-von Trotha (Direktorin des ZAK), Dmytro Ternovyi (Autor) mit Übersetzerin und Dramaturg Michael Gmaj

Ist Gewalt notwendig?

Als prägnantes Beispiel für die Art und Weise, wie Gewalt praktiziert wird, erzählt Ternovyi, wie die Fensterscheiben eines Rathauses eingeschmissen wurden, weil die Regierung unbeeindruckt von einem Ultimatum war. Am Tag darauf haben jedoch de gleichen Leute die Fensterscheiben des Rathauses wieder ersetzt. Die Gewalt sei für ihn insofern nachvollziehbar, als dass die Menschen nicht gehört werden. Leider ist der Weg der Gewalt, bei solchen Umwälzungen oft unumgänglich, da kein Machthaber seine Macht freiwillig aufgibt. Wie sich das Land weiterentwickelt sei überhaupt nicht abzusehen. „Das wichtigste ist das die Leute jetzt miteinander kommunizieren“ sagt Dmytro Ternovyi. Die Premiere des Stücks wird am 09. Juni 2014 im Badischen Staatstheater uraufgeführt.

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Ingo Schulze über den globalen Markt

Am Sonntag, 16. Februar 2014, las Ingo Schulze im Rahmen der Karlsruher Gespräche im Studio des Badischen Staatstheaters eine Passage aus seinem Erzählband 33 Augenblicke des Glücks und das Vorwort seiner jüngsten Veröffentlichung Unsere schönen neuen Kleider. Hoai Thuong führte nach der Lesung mit dem Autor ein persönliches Gespräch über die Weltmarktgesellschaft.

Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)
Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)

„Des Kaisers neue Kleider“ – Wann haben Sie das Märchen zum ersten Mal gehört oder gelesen und was hat Ihnen dabei besonders gefallen?

Natürlich als Kind, wie wohl die meisten von uns. Wie ich damals darauf reagiert habe, weiß ich nicht mehr, aber es wird mir wohl gut gefallen haben. Vielleicht fand ich das Märchen auch zu unwahrscheinlich. Womöglich hatte es mich gefreut, dass ein Kind der vermeintliche Held dieser Geschichte ist. Später dachte ich, ich kenne das Märchen gut. Aber wenn man es noch einmal aufmerksam liest, entdeckt man plötzlich so viel. Und der Schluss ist doch ganz anders, als es die allermeisten in Erinnerung haben: Der Kaiser glaubt zwar, dass das Volk recht habe, aber er meint, nun weiter durchhalten zu müssen. Und sein Hofstaat tut es ihm gleich. Wobei ich mir sicher bin, dass sich durch den Ruf des Kindes und letztlich durch den Ruf des Volkes schon etwas verändern wird: Der Kaiser geht fortan anders durch die Welt.

Sie haben das Märchen später bestimmt immer wieder gelesen, oder? Denn Sie haben es dann in Ihr Buch eingebaut.

Es war die Überlegung, dass etwas, das eigentlich offensichtlich ist, nicht als offensichtlich wahrgenommen wird. Das war der Ansatz, dieses Märchen nochmal zu lesen.

Wir können die Rollen frei wählen

Wer spielt für Sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft die Rolle des Königs, wer die der Dienerschaft und wer könnte das Kind sein?

Wenn man Demokratie beim Wort nimmt, dann sind wir alle der König – Wir Wähler und Bürger dieses Landes. Wir haben uns etliche neue Kleider verpassen lassen. Diese neuen Kleider können „Wachstum um jeden Preis“ heißen, sie können „Privatisierung um jeden Preis“ heißen. Auf jeden Fall heißen sie nicht: „Was wollen wir? Was ist gut für uns?“. Also, insofern sind wir der Souverän, der König, der sich anschmieren lässt. Aber wir könnten auch die anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück!

Dann möchte ich gleich den Begriff „Privatisierung“ aufgreifen. In Ihrem Buch verwenden Sie dieses Wort als Gegenbegriff für „Gemeinwesen“. Bedeutet für Sie mehr Gerechtigkeit also auch mehr Gemeinschaft und weniger Individuum?

Die Schwierigkeit ist, dass man bei der Privatisierung fragen muss, wo sie sinnvoll und wo sie nicht sinnvoll ist. Dort, wo es Monopolsituationen gibt, ist Privatisierung Unsinn – also bei der Wasser- und Stromversorgung. Es gibt auch Bereiche, wo ich es unwürdig finde, zu privatisieren. Gerade bei der Bildung und beim Gesundheitswesen ist es oft fragwürdig, marktwirtschaftlich denken zu müssen. Wenn Sie zum Beispiel immer fragen müssen: Was bringt mir dieser Patient? Der Patient wird zum Kunden und das halte ich für etwas ganz Fragwürdiges, das lehne ich ab. Man fragt ja auch nicht den Pfarrer, wie viele Beerdigungen er gemacht hat. Wenn man bei der Feuerwehr sagen würde, je mehr Brände es gibt, desto mehr Geld bekommt ihr, würden dann nicht Feuerwehrleute auch einen Brand legen? Ich glaube nicht, dass „privatisiert“ immer gut ist und „nicht privatisiert“ immer schlecht. Man muss grundsätzlich darüber reden. Es gibt da auch Grenzbereiche, zum Beispiel in der Rüstung oder in der Pharmazie.

Es ist leicht den Verstand zu verlieren

Fragwürdig finden Sie ja auch den Begriff der „marktkonformen Demokratie“. Mit welchen Wörtern würden Sie aber einen „demokratiekonformen Markt“ beschreiben?

Im demokratiekonformen Markt spielt die anzustrebende Gerechtigkeit eine große Rolle. Grundsätzlich ist nachzudenken, was unsere Gesellschaft braucht und was nicht. Sicherlich darf so etwas nicht diktatorisch entschieden werden, aber man kann bestimmte Dinge auch über Steuern regeln. Nicht jeder Quatsch, der Rohstoffe kostet, muss zu Billigpreisen aus China eingeführt werden. Demokratiekonforme Märkte haben sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun, aber eben auch mit der Frage „Was brauchen wir eigentlich für Güter und wo kommen sie her?“. Viele Rohstoffe, gerade für die Handy- oder Computerproduktion, kommen aus sogenannten Konfliktzonen. Wenn man sich vor Augen hält, was da eigentlich passiert, verliert man den Verstand.

Sehen Sie im Fair-Trade-Handel eine Lösung?

Fair-Trade ist ja schon ein Markenzeichen geworden. Aber natürlich, ob ich das nun gerechten oder fairen Handel nenne, zeigt gerade der Begriff wie marginal diese Art Handel ist. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein.

Das wollen wir und das wollen wir nicht

Der „Markt“ ist ja auch ein Thema der diesjährigen Karlsruher Gespräche. Wie ist denn Ihre Meinung zum globalen Markt und sehen Sie auch Vorteile oder Chancen in der Globalisierung?

Die Frage ist, was ist heute noch Markt. Das, was wir bisher unter „Markt“ und „Börse“ verstanden haben, ist sehr marginal geworden. Wenn die Verweildauer einer Aktie bei 22 Sekunden liegt und die Computerprogramme bei deren Verkauf und Kauf mit Nanosekunden rechnen, dann hat das natürlich nichts mehr mit „Markt“ zu tun. Das ist nur noch Spekulation. Und Spekulationen sind nicht unbedingt etwas, das dem Gemeinwesen gut tut. Als Gemeinwesen sollten wir sagen, das wollen wir und das wollen wir nicht. Man hat an der Finanzkrise gesehen, wie schnell sogar Banken verstaatlicht werden konnten. Die Regeln können geändert werden, auch wenn das nicht einfach ist, weil es Interessensgruppen gibt. Ich frage mich nur, warum man einer verschwindenden Minderheit erlaubt, zu spekulieren, obwohl man weißt, dass es für die Mehrheit nicht gut ausgeht.

Sie haben gegen Ende 2013 einen Aufruf gegen die große Koalition gestartet. Stellen wir uns mal vor, eine Koalition zwischen der SPD, den Grünen und den Linken wäre zustande gekommen. Wie würde sich der Markt denn unter dieser Regierung entwickeln?

Ich bin skeptisch geworden, oder sagen wir mal so: Parteien verhalten sich im Wahlkampf anders, in der Opposition anders und als Regierungsparteien anders. Aber ich habe da einerseits keine Illusionen und anderseits glaube ich, dass in einer rot-rot-grünen Konstellation die Chance größer ist, bessere und auch gerechtere Gesetze zu machen. Aber was wäre wenn, ist schwer einzuschätzen. Gerade die SPD hat als Regierungspartei oftmals eine Politik verfolgt, die gar nichts mehr mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hatte. Die sozial-ökonomische Polarisierung dieser Gesellschaft ist leider gerade unter Rot-Grün enorm vorangetrieben worden. Es ist zwar keine Sache, die mit großem Hurra passierte. Aber bis heute hat man nicht wirklich anerkannt, welchen Mist man gebaut hat.

Zum Schluss habe ich noch eine Frage über die Zukunft. Wie geht es Ihrer Meinung nach mit der Weltmarktgesellschaft weiter? Welche Themen werden unsere Gesellschaft in fünf oder zehn Jahren beschäftigen?

Es fällt mir ganz schwer, darauf zu antworten. Weil es natürlich eine Entwicklung gibt, die diesem ganzen Wahnsinn noch verstärkt. Es geht immer mehr, oder ausschließlich, um Profit. Ob es nun heute oder in zehn Jahren ist – es ist heute genauso falsch wie eben in zehn Jahren. Je länger diese Einstellung besteht, umso mehr Unglück verursacht sie und umso mehr unwürdige Verhältnisse produziert sie – unsinnige Verhältnisse. Ob jemand eine Milliarde hat oder zehn Milliarden, spielt letztlich keine Rolle für das Privatleben desjenigen. Aber ihm oder ihr wächst dadurch eine ungeheure Macht zu. Ob diese dann verantwortungsvoll genutzt wird, ist sehr fraglich, vor allem, wenn sie unkontrolliert genutzt wird.

Herr Schulze, vielen Dank für das Gespräch!

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Eine Rede für einen „demokratiekonformen Markt“

„Arbeitnehmer“ sind eigentlich „Arbeitgeber“, weil sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Und was versteht Angela Merkel unter einer „marktkonforme Demokratie“? Ingo Schulze stellt Begriffe infrage, die sich mit der Demokratie in Deutschland eingebürgert haben. Weil „Welt(markt)gesellschaft“ Thema der 18. Karlsruher Gespräche war, präsentierte Ingo Schulze am gestrigen Sonntag sein Buch zu dieser Rede. Hoai Thuong hat das Buch gelesen.

Ingo Schulzes Rede im Buchformat (Bild: Hoai Truong)
Ingo Schulzes Rede im Buchformat (Bild: Hoai Truong)

Unsere schönen neuen Kleider ist eine Überarbeitung von Ingo Schulzes Rede, die er 2012 in Dresden gehalten hat. Eine Hauptfigur oder einen Akteur gibt es nicht. Er selbst spricht als Ingo Schulze. Nachdem er schon in Dresden zur Sprache gebracht hat, „dass eine marktkonforme Demokratie keine Demokratie mehr ist“ (S. 17), äußert er im Buch nochmals schriftlich seine Meinung. Er stellt einen paradoxen Bezug zwischen Demokratie und Markt her, wobei er unter „Markt“ vor allem die Finanzmärkte meint. Zu Beginn beschreibt er, wie eine „marktkonforme Demokratie“ das Leben in Deutschland beeinflusst. Gegen Ende des Buches geht er in die globalen Folgen von Privatisierungen über.

Zunächst aber schlüpft er in die Rolle des Märchenerzählers und erzählt dem Publikum das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen.

Ein kleiner Exkurs in die Märchenwelt

Es war einmal ein Kaiser. Er trägt am liebsten die prächtigsten Kleider aus den schönsten Stoffen. Diesen Stoffen können wir einen Namen geben: die DDR. Als zwei Betrüger ins Land kommen, die ihm noch prächtigere Kleider aus noch besseren Stoffen weben wollen, freut sich der Kaiser sehr. Denn er hofft, mit den neuen Kleidern noch besser auszusehen. Keiner im Land traut sich, die Wahrheit über diese Kleider zu sagen. Stattdessen loben sie die Kleider in den höchsten Tönen, obwohl sie sie gar nicht sehen können. Sie wollen nicht unverzeihlich dumm oder ihrem Amt unwürdig sein. Als schließlich ein kleines Kind ruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“, wird die Wahrheit enthüllt. Der Kaiser trägt ja als Gewand die Demokratie! Am Ende des Märchens wechselt der Redner fast unmerklich in die Rolle des Kindes und offenbart dem Volke die Wahrheit über die neuen Kleider des Kaisers.

Und die Wahrheit ist: Unsere Demokratie ist eine „marktkonforme Demokratie“. Nach Merkel ist diese Form der Demokratie erstrebenswert. Dabei ist die paradoxe Bedeutung des aus Ausdrucks niemandem bewusst. Ingo Schulze erklärt uns, was hinter diesem Ausdruck tatsächlich steckt: alle Gewinne werden privatisiert, was dem Gemeinwesen zugute kommt, sind die Schulden. Die neuen Grundsätze der „marktkonformen Demokratie“ sind es, die Arbeitskräfte für mehr Absatz in der Marktwirtschaft auszubeuten und das Wohlergehen der Wohlhabenden zu steigern. „Markt“ und „Demokratie“ sind ein Begriffspaar, das in keinem Zeitalter zusammengehören. Im Kern der Rede argumentiert Schulze, warum unsere Demokratie im Grunde keine ist. Er springt dazu ständig von der Märchenwelt in die Realität und wieder zurück.

Nicht noch eine Mauerfall-Erzählung

Schon in Simple Storys (1998) und Neue Leben (2005) kennen wir Ingo Schulze als ein Autor der Wendethematik. Dieses Mal versteckt er sich aber nicht hinter der Figur des Briefeschreibers oder hinter fiktiven Protagonisten, um Geschichten vom Ende der DDR zu erzählen. Die Rede entlarvt schonungslos den Zustand der Demokratie seit dem Mauerfall. Er nennt das Ende der DDR bei Namen (zum Beispiel Egon Kranz und Helmut Kohl), verweist auf historische Tatsachen und zieht Bilanzen, um den Leser fast mit einer Anhäufung von Informationen und Zahlen zu erschlagen. Aber er will den Leser nicht mit Zahlen ersticken, sondern diesem mitteilen, dass diese unsere heutige Welt eben definieren. Er möchte sie jedoch viel lieber mit Wörtern beschreiben. Das führt er vor, indem er gekonnt mit Wörtern und Bildern wie „Liebesdiener des Systems“ und „Unrechtsstaat“ jongliert. „Vergebliche Liebesmüh’“ ist auch so ein Begriff.

Keine Investition für jedermann

Der Bezug zur Märchenwelt regt den Leser ständig zum Nachdenken an. Der Leser kann sich gar nicht entspannt zurücklehnen, weil er ständig die zwei Welten vergleichen und Bilder entschlüsseln muss. Besonders Wirtschafts- und Politiklaien werden an vielen Stellen auf Verständnisschwierigkeiten stoßen. Das Buch ist definitiv keine Lektüre für einen gemütlichen Kaminabend.

Kapitalisten, Banker und Börsianer stecken ihre Investition lieber nicht in dieses Buch. Der Ertrag ist vorhersehbar und ist gleich Null. Denn Schulze macht den Kapitalismus zur Ursache von Verarmung der Allgemeinheit. Er will lediglich ansprechen, besser: aussprechen, warum er mit dem Zustand unserer Demokratie unzufrieden ist. Alle, die nicht im Bewusstsein sind, wie die Spekulation mit Nahrungsmitteln oder Argrarsubventionen die Demokratie in den Ruin stürzen und Hungernde noch hungriger machen, sollen dieses Buch auf die Liste „Als nächstes zu Lesen“ setzen.

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Spanien im Schwarzwald

Der Dichter und Essayist José Oliver stellt am Sonntag, 24. Februar 2013 um 15 Uhr bei den Karlsruher Gesprächen sein Buch „Mein andalusisches Schwarzwalddorf“ vor. Wo jenes Dorf liegt, wie es aussieht und was es besonders macht, weiß Sarah Müller, die für uns das Buch gelesen hat.

Wenn zwei Kulturen sich begegnen: Der Andalusier José Oliver erzählt von seinem Schwarzwalddorf (Bild: J. Oliver)
Kulturengemisch: Der Andalusier José Oliver erzählt von seinem Schwarzwalddorf (Bild: J. Oliver)

Mein andalusisches Schwarzwalddorf, 2007 bei Suhrkamp erschienen ist eine Sammlung von unterschiedlichen Textsorten. Der Autor erzählt darin Geschichten aus seiner Kindheit, die von zwei Kulturen geprägt sind – der deutschen und der spanischen. Er mischt, selbst als eine Art Gemisch aus Andalusier und Schwarzwälder, in seinen Texten auch die spanische und die deutsche Sprache auf eine literarisch anspruchsvolle und emotionale Weise zu einer Melange aus Erinnerungen, Essays und Gedichten.

José Oliver wurde 1961 als Sohn einer andalusischen Gastarbeiterfamilie in Hausach im Schwarzwald geboren. Bilingual aufgewachsen und geprägt durch zwei unterschiedliche Kulturen versucht er dieses Spannungsfeld in seiner Literatur zu beschreiben. Er hat in Berlin, Lima oder Québec gelebt, war Stadtschreiber in Kairo und Gastprofessor am Massachusetts Institut of Technology (MIT) Cambridge. Doch er ist immer wieder zurückgekommen in sein „andalusisches Schwarzwalddorf“.

Wenn zwei Sprachen nicht reichen

Das andalusische blaue Meer wird bei José Oliver zu einem Meer aus Grün, einem Wald, dem Schwarzwald. Oliver beschreibt wie er mit zwei Heimaten aufgewachsen ist, immer auf der Suche nach Worten und nach Sprache.

Er erinnere sich gerne an Sommerabende und Heugabeln, das „Haihopfe mit den Nachbarskindern“ und die verschneiten Nachmittage und Schlittenfahrten. Aber auch an Orangen, „den Duft des Südens“ mitten im Schwarzwalddorf. Am Wochenende putzen ihn seine Eltern traditionsbewusst mit einem Matrosenanzug heraus. „Mit fast welterschütternder Regelmäßigkeit zelebriert, wurde er mit circa zwanzig Erwachsenen […] zum Spaziergang verdonnert und ging auf Grund seines mittelmeerisch aufgetragenen äußeren Erscheinungsbildes murrend, aber folgsam seinen Weg auf dieser sonntäglichen Andalusienrallye der dahinpromenierenden spanischen Erziehungsberechtigten samt Schutzbefohlenen.“

Werktags dagegen schien es ihm, dass sie alle viel weniger spanisch waren, so wurde er – wie alle anderen Kinder im Dorf – in Lederhosen gesteckt, ein „Schwarzwälder Bue“. Schließlich berichtet Oliver noch von den grotesken Maskenumzügen, Fasent und dem Schmutzige Dunnschdig – von einer Zeit, die es nur im Schwarzwalddorf, in Deutschland, aber nicht in Andalusien gibt. Er sollte „kulturmehrfach“, „sprachgetrieben“ und „zwischensprachlich“ aufwachsen.

Wortspiele und Sprachenmix

„El mar La mar Das Meer Die Meerin Der Meer“. Was hier als Wortspielerei erscheint, ist für Oliver eine notwendige „Reise“, ein „Einatmen in Sprachfetzen, um vielleicht jenen Sprachhütern und Alphabestien zu begegnen“ und um den Wörtern und ihren Beziehungen zur einen wie auch zur anderen, der deutschen und der spanischen Kultur, anzunähern. Aus der Spannung zwischen den Sprachen heraus erkennt José Oliver für sich selbst, dass er „nicht nur an den dudenkorrekt ausgelegten Richtschnüre[n] einer Sprache entlang schreiben kann. Die parallele Wahrnehmung zweier Sprachen lässt [ihn] die Dinge und ihre Verhältnisse ständig aus verschiedenen Perspektiven erleben.“ Diese doppelte Sichtweise Olivers erzeugt einen Stil voller Neologismen und ungewohnter Wortverbindungen, die es dem Leser zu Beginn schwer machen, das Gesagte nachzuvollziehen.

Mein andalusisches Schwarzwalddorf ist als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen (Bild: suhrkamp)
Mein andalusisches Schwarzwalddorf ist als Taschenbuch bei suhrkamp erschienen (Bild: suhrkamp)

Gerade das erste Kapitel Mein Hausach ist voll von Sätzen wie: „Ständige Ankunft heuer, die Seelenwärme lebt, ein SchollenHERZ buchstabiert und mit den Jahren ein Humanum erzählt, das immer mehr war (und ist) als Provinz und heimgebrachte Metropole.“ Dieser Stil mag abschreckend und auf den ersten Blick unverständlich wirken, dennoch gelingt es dem Autor mit seiner besonderen Sprache zu faszinieren. Gerade die anfänglichen Verständnisschwierigkeiten scheinen dem Leser eigentlich vorführen zu wollen, wie schwierig es ist Gedankengänge zu übersetzen und die Bedeutungsvielfalt einzelner Wörter in einer anderen Sprache genauso gut ausdrücken zu wollen. Die Kapitel, in denen Oliver seine Erlebnisse und Erinnerungen schildert, sind viel verständlicher verfasst. Auffallend bleibt aber die Vermischung von Hochdeutsch, Dialekt und dem Andalusisch-Spanischen, die seine gesamte Textsammlung prägt.

Die einzelnen Beiträge setzen sich aus verschiedenen Reden, Aufsätzen und Gedichten zusammen, jeweils in ihrer ursprünglichen Form als einzelne Kapitel unmittelbar nebeneinander. Neben persönlich-reflektierenden Erzählungen stehen eher theoretische, sprachwissenschaftliche Essays. Dazwischen gibt es schwarz-weiß Fotografien, die den Jungen José, seine Eltern und sein Heimathaus zeigen.

José Oliver schafft mit seinem Buch ein buntes Mosaik, das sich zu einem Gesamtgemälde zusammenfügt: der kleine andalusische Junge im Matrosenanzug, Fasent und ein Dichter auf der Suche nach den richtigen Worten. Es gelingt ihm mit seinen unterschiedlichen Texten auf anschauliche Art und Weise den besonderen Gemütszustand zu beschreiben, zwischen zwei Sprachen festzustecken und nicht immer die richtigen Worte finden zu können.

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