Ingo Schulze über den globalen Markt

Am Sonntag, 16. Februar 2014, las Ingo Schulze im Rahmen der Karlsruher Gespräche im Studio des Badischen Staatstheaters eine Passage aus seinem Erzählband 33 Augenblicke des Glücks und das Vorwort seiner jüngsten Veröffentlichung Unsere schönen neuen Kleider. Hoai Thuong führte nach der Lesung mit dem Autor ein persönliches Gespräch über die Weltmarktgesellschaft.

Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)
Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)

„Des Kaisers neue Kleider“ – Wann haben Sie das Märchen zum ersten Mal gehört oder gelesen und was hat Ihnen dabei besonders gefallen?

Natürlich als Kind, wie wohl die meisten von uns. Wie ich damals darauf reagiert habe, weiß ich nicht mehr, aber es wird mir wohl gut gefallen haben. Vielleicht fand ich das Märchen auch zu unwahrscheinlich. Womöglich hatte es mich gefreut, dass ein Kind der vermeintliche Held dieser Geschichte ist. Später dachte ich, ich kenne das Märchen gut. Aber wenn man es noch einmal aufmerksam liest, entdeckt man plötzlich so viel. Und der Schluss ist doch ganz anders, als es die allermeisten in Erinnerung haben: Der Kaiser glaubt zwar, dass das Volk recht habe, aber er meint, nun weiter durchhalten zu müssen. Und sein Hofstaat tut es ihm gleich. Wobei ich mir sicher bin, dass sich durch den Ruf des Kindes und letztlich durch den Ruf des Volkes schon etwas verändern wird: Der Kaiser geht fortan anders durch die Welt.

Sie haben das Märchen später bestimmt immer wieder gelesen, oder? Denn Sie haben es dann in Ihr Buch eingebaut.

Es war die Überlegung, dass etwas, das eigentlich offensichtlich ist, nicht als offensichtlich wahrgenommen wird. Das war der Ansatz, dieses Märchen nochmal zu lesen.

Wir können die Rollen frei wählen

Wer spielt für Sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft die Rolle des Königs, wer die der Dienerschaft und wer könnte das Kind sein?

Wenn man Demokratie beim Wort nimmt, dann sind wir alle der König – Wir Wähler und Bürger dieses Landes. Wir haben uns etliche neue Kleider verpassen lassen. Diese neuen Kleider können „Wachstum um jeden Preis“ heißen, sie können „Privatisierung um jeden Preis“ heißen. Auf jeden Fall heißen sie nicht: „Was wollen wir? Was ist gut für uns?“. Also, insofern sind wir der Souverän, der König, der sich anschmieren lässt. Aber wir könnten auch die anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück!

Dann möchte ich gleich den Begriff „Privatisierung“ aufgreifen. In Ihrem Buch verwenden Sie dieses Wort als Gegenbegriff für „Gemeinwesen“. Bedeutet für Sie mehr Gerechtigkeit also auch mehr Gemeinschaft und weniger Individuum?

Die Schwierigkeit ist, dass man bei der Privatisierung fragen muss, wo sie sinnvoll und wo sie nicht sinnvoll ist. Dort, wo es Monopolsituationen gibt, ist Privatisierung Unsinn – also bei der Wasser- und Stromversorgung. Es gibt auch Bereiche, wo ich es unwürdig finde, zu privatisieren. Gerade bei der Bildung und beim Gesundheitswesen ist es oft fragwürdig, marktwirtschaftlich denken zu müssen. Wenn Sie zum Beispiel immer fragen müssen: Was bringt mir dieser Patient? Der Patient wird zum Kunden und das halte ich für etwas ganz Fragwürdiges, das lehne ich ab. Man fragt ja auch nicht den Pfarrer, wie viele Beerdigungen er gemacht hat. Wenn man bei der Feuerwehr sagen würde, je mehr Brände es gibt, desto mehr Geld bekommt ihr, würden dann nicht Feuerwehrleute auch einen Brand legen? Ich glaube nicht, dass „privatisiert“ immer gut ist und „nicht privatisiert“ immer schlecht. Man muss grundsätzlich darüber reden. Es gibt da auch Grenzbereiche, zum Beispiel in der Rüstung oder in der Pharmazie.

Es ist leicht den Verstand zu verlieren

Fragwürdig finden Sie ja auch den Begriff der „marktkonformen Demokratie“. Mit welchen Wörtern würden Sie aber einen „demokratiekonformen Markt“ beschreiben?

Im demokratiekonformen Markt spielt die anzustrebende Gerechtigkeit eine große Rolle. Grundsätzlich ist nachzudenken, was unsere Gesellschaft braucht und was nicht. Sicherlich darf so etwas nicht diktatorisch entschieden werden, aber man kann bestimmte Dinge auch über Steuern regeln. Nicht jeder Quatsch, der Rohstoffe kostet, muss zu Billigpreisen aus China eingeführt werden. Demokratiekonforme Märkte haben sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun, aber eben auch mit der Frage „Was brauchen wir eigentlich für Güter und wo kommen sie her?“. Viele Rohstoffe, gerade für die Handy- oder Computerproduktion, kommen aus sogenannten Konfliktzonen. Wenn man sich vor Augen hält, was da eigentlich passiert, verliert man den Verstand.

Sehen Sie im Fair-Trade-Handel eine Lösung?

Fair-Trade ist ja schon ein Markenzeichen geworden. Aber natürlich, ob ich das nun gerechten oder fairen Handel nenne, zeigt gerade der Begriff wie marginal diese Art Handel ist. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein.

Das wollen wir und das wollen wir nicht

Der „Markt“ ist ja auch ein Thema der diesjährigen Karlsruher Gespräche. Wie ist denn Ihre Meinung zum globalen Markt und sehen Sie auch Vorteile oder Chancen in der Globalisierung?

Die Frage ist, was ist heute noch Markt. Das, was wir bisher unter „Markt“ und „Börse“ verstanden haben, ist sehr marginal geworden. Wenn die Verweildauer einer Aktie bei 22 Sekunden liegt und die Computerprogramme bei deren Verkauf und Kauf mit Nanosekunden rechnen, dann hat das natürlich nichts mehr mit „Markt“ zu tun. Das ist nur noch Spekulation. Und Spekulationen sind nicht unbedingt etwas, das dem Gemeinwesen gut tut. Als Gemeinwesen sollten wir sagen, das wollen wir und das wollen wir nicht. Man hat an der Finanzkrise gesehen, wie schnell sogar Banken verstaatlicht werden konnten. Die Regeln können geändert werden, auch wenn das nicht einfach ist, weil es Interessensgruppen gibt. Ich frage mich nur, warum man einer verschwindenden Minderheit erlaubt, zu spekulieren, obwohl man weißt, dass es für die Mehrheit nicht gut ausgeht.

Sie haben gegen Ende 2013 einen Aufruf gegen die große Koalition gestartet. Stellen wir uns mal vor, eine Koalition zwischen der SPD, den Grünen und den Linken wäre zustande gekommen. Wie würde sich der Markt denn unter dieser Regierung entwickeln?

Ich bin skeptisch geworden, oder sagen wir mal so: Parteien verhalten sich im Wahlkampf anders, in der Opposition anders und als Regierungsparteien anders. Aber ich habe da einerseits keine Illusionen und anderseits glaube ich, dass in einer rot-rot-grünen Konstellation die Chance größer ist, bessere und auch gerechtere Gesetze zu machen. Aber was wäre wenn, ist schwer einzuschätzen. Gerade die SPD hat als Regierungspartei oftmals eine Politik verfolgt, die gar nichts mehr mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hatte. Die sozial-ökonomische Polarisierung dieser Gesellschaft ist leider gerade unter Rot-Grün enorm vorangetrieben worden. Es ist zwar keine Sache, die mit großem Hurra passierte. Aber bis heute hat man nicht wirklich anerkannt, welchen Mist man gebaut hat.

Zum Schluss habe ich noch eine Frage über die Zukunft. Wie geht es Ihrer Meinung nach mit der Weltmarktgesellschaft weiter? Welche Themen werden unsere Gesellschaft in fünf oder zehn Jahren beschäftigen?

Es fällt mir ganz schwer, darauf zu antworten. Weil es natürlich eine Entwicklung gibt, die diesem ganzen Wahnsinn noch verstärkt. Es geht immer mehr, oder ausschließlich, um Profit. Ob es nun heute oder in zehn Jahren ist – es ist heute genauso falsch wie eben in zehn Jahren. Je länger diese Einstellung besteht, umso mehr Unglück verursacht sie und umso mehr unwürdige Verhältnisse produziert sie – unsinnige Verhältnisse. Ob jemand eine Milliarde hat oder zehn Milliarden, spielt letztlich keine Rolle für das Privatleben desjenigen. Aber ihm oder ihr wächst dadurch eine ungeheure Macht zu. Ob diese dann verantwortungsvoll genutzt wird, ist sehr fraglich, vor allem, wenn sie unkontrolliert genutzt wird.

Herr Schulze, vielen Dank für das Gespräch!

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Über Statistiken und den globalen Kollaps

Brauchen wir neue moralische und ethische Standards in Zeiten der Globalisierung? Gibt es positive Entwicklungen? Welche Rolle spielen Statistiken bei der Erfassung der globalen Wirklichkeit? Wie wirkt sich die Globalisierung in Schwellenländern aus? Mit diesen Fragestellungen haben sich Experten beim Symposium der 18. Karlsruher Gespräche befasst. Ümmü Susan berichtet über die Gespräche am zweiten Vormittag. (mehr …)

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Welt(markt)gesellschaft im Leinwandformat

Der globale Marktplatz boomt. Doch das internationale Wetteifern um Ressourcen bleibt nicht ohne Folgen. Anlässlich der 18. Karlsruher Gespräche veranstaltet das ZAK in Kooperation mit ZKM  und ARTE am 15. Februar 2014 eine Filmnacht, die das Thema Globalisierung von allen Seiten beleuchtet. Sannah Mattes berichtet.

Die ARTE-Filmnacht über Steuerflucht, Gesundheitstourismus, den neuen Agrarkolonialismus und Google. (Bild: Felix Grünschloss/ZAK)
Die ARTE-Filmnacht über Steuerflucht, Gesundheitstourismus, den neuen Agrarkolonialismus und Google. (Bild: Felix Grünschloss/ZAK)

Den Anfang macht Xavier Harels Dokumentarfilm Zeitbombe Steuerflucht – Wann kippt das System? (ARTE France 2013), der sich bildreich und humorvoll mit dem brisanten Thema auseinandersetzt, ohne dabei die kritische Distanz zu verlieren. Auf den Spuren des „größten Raubzugs unserer Zeit“ bereist Harel Steuerparadiese, enthüllt die Steuersparmodelle der Weltmarktriesen und zeigt am Beispiel Griechenlands, welches Ausmaß die Konsequenzen des verantwortungslosen Handel(n)s annehmen können. Der Film bietet einen gleichermaßen faszinierenden wie schockierenden Einblick in den lukrativen Wirtschaftszweig Steuerflucht, der sinnbildlich für das Versagen der Globalisierung steht.

Globalisierung total beschreibt auch Alexis Marants Dokumentarfilm Dritte Welt im Ausverkauf (ARTE France 2010). In Folge des demografischen Wandels und der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrisen verschärft sich das Problem der globalen Ressourcenknappheit. Es beginnt ein Wettlauf von Investoren aus Schwellen- und Industrieländern um die besten Agrarflächen. Doch das internationale Monopoly fordert Opfer. Die Leidtragenden sind vor allem die Ärmsten der Armen. Marant nimmt uns mit auf eine eindrucksvolle Reise durch drei Kontinente, die den Handel mit Kultur- und Lebensräumen veranschaulicht.

Anhand verschiedener Patientenschicksale untersucht Wolfgang Luck in seiner Dokumentation Mein Bypass aus Bangkok – Das Geschäft mit dem Gesundheitstourismus (ARTE/ZDF 2009) den Einzug der Globalisierung ins Krankenzimmer. Was in den 1980er Jahren mit Schönheits-OPs begann, hat sich längst zu einem Milliardengeschäft entwickelt. Mit Hightech-Methoden und Rundum-Sorglos-Paketen zum kleinen Preis wirbt der asiatische Medizinmarkt um neue Kunden – mit Erfolg, denn ungeachtet potentieller Risiken und Nebenwirkungen wächst die Nachfrage beständig. Ein Film, der zwar an die Nieren geht, aber nicht ans Herz, denn Lucks Suche nach der Ethik des Business muss erfolglos bleiben.

Das Schlusslicht der Reihe bildet Ben Lewis‘ Dokumentarfilm Google und die Macht des Wissens (ARTE/ZDF 2013), ein kritisches Porträt, das sich vor dem Hintergrund des Massendigitalisierungsprojektes ‚Google Books‘ mit dem Handel und der Konservierung von Daten und Wissensbeständen auseinandersetzt. Ausgehend von H.G. Wells‘ Zukunftsvision des globalen und allumfassenden Wissens- und Erinnerungsspeichers ‚World Brain‘, erörtert Lewis auf anschauliche Weise die Licht- und Schattenseiten von künstlicher Intelligenz und verselbständigtem Informationsmanagement.

Die Veranstaltung findet ab 19:30 Uhr im ZKM_Medientheater statt. Der Eintritt ist frei.

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Globalisierung aus kanadischer Sicht

„Living comfortably with diversity“ – mit diesem Motto zeigt  John Ralston Saul in seinem literarischen Werk am Beispiel seines Heimatlandes Kanada, dass kulturelle Vielfalt ohne soziale Spannungen  möglich ist. Am Samstag, 15. Februar 2014, spricht der Autor bei den Karlsruher Gesprächen. Ümmü Susan porträtiert den Schriftsteller.

Der Schriftsteller und PEN-Präsident John Ralston Saul (Bild: johnralstonsaul.com)
Der Schriftsteller und PEN-Präsident John Ralston Saul (Bild: johnralstonsaul.com)

Geboren in Ottowa, Ontario hat Saul nach seinem Universitätsabschluss in Politikwissenschaften und Geschichte zunächst die akademische Laufbahn eingeschlagen, die 1972 in einer Promotion mündete. Anschließend ist er  jedoch in die Wirtschaft gegangen, wo er unter anderem beim Aufbau des kanadischen Ölkonzerns PetroKanada im Vorstand mitwirkte.

Heute ist er einer der einflussreichsten intellektuellen Persönlichkeiten Kanadas. Seine Essays und Romane wurden in 22 Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Oft legt er bei Tabuthemen seine Finger auf offene Wunden  und stellt eingefahrene Denkmuster in Frage, die viele Prominente nicht einmal wagen offen anzusprechen. Seine Ideen haben auch international großen Einfluss und liefern wichtige Impulse für die Interpretation von aktuellen, politischen und wirtschaftlichen Ereignissen. In der renommierten US-amerikanischen Kultur-Zeitschrift Utne Reader ist John Ralston Saul als einer der wichtigsten 100 Denker und Visionäre aufgeführt.

Indigene Eigenheiten im Lande des Ahorns

In seinen Essays Reflections of a Siamese Twin (1998) und A fair country (2008) legt der Schriftsteller dar, dass sich die Einwanderer aus Europa im 15. Jahrhundert an den kulturellen Eigenheiten der Ureinwohner orientierten, mit den Töchtern der indigenen Stammesfürsten Nachkommen zeugten und die Vielzahl überlappender Gesellschaftsstrukturen, Sprachvielfalt  und multiplen Umgangsformen übernahmen und unbewusst weiterpflegten. Anders als in den USA hat sich unter der kanadischen Bevölkerung die multikulturelle Identität über Jahrhunderte in der Mentalität bewahrt und sich auf Institutionen und Niederschriften wie etwa in der Kanadischen Verfassung niederschlagen.

Nach Sauls Ansicht hat sich die Idee der europäischen Eroberung und der Erhalt einer monolithisch geformten Gesellschaft, die die gewaltsame Kolonialisierung und die Vertreibung der Ureinwohner in Reservate nach sich zog, weitläufig in den USA durchgesetzt. Die europäischen Einwanderer hatten bereits bei ihrer Ankunft in US-Gebieten unter Berufung auf die Prinzipien der Aufklärung und Rationalismus eine fertige Vorstellung, wie ein idealer amerikanischen Bürger im melting pot, dem Schmelztiegel aller europäisch-stämmigen Kulturen zu sein hat.

Kritik der globalen Ordnung

In seiner Schrift The Collapse of Globalism and the rebirth of nationalism (2005) kündigt Saul ein Ende der Globalisierung in naher Zukunft an. Die neoliberalen Wirtschaftssysteme, die stets danach streben effizient zu wirtschaften, führen dazu, dass eine Elite für weltweite Volkswirtschaften agiert und nicht scheut zugunsten von Banken, Staaten in den Bankrott zu treiben. Nach Einschätzung Sauls ist die erhoffte Unabhängigkeit nur bedingt eingetreten. Vielmehr steigt die  Abhängigkeit von Öl und weiteren Energiereserven.

Auffällig ist für Saul, dass die gegenwärtige globale Weltordnung alte Kolonialvorstellungen in einem neuen Gewand verkörpert Grundlegend findet er das Konstrukt des Nationalstaats nicht schlecht, sofern die demokratische Grundprinzipien und nationalstaatliches Denken nicht in Frage gestellt werden. Und sofern der Nationalgedanke nicht in Rassismus, Stigmatisierung und Ausgrenzung der Individuen ausufert.

Saul stellt unter anderem fest, dass der Aufstieg des Individualismus, nicht wie einst erhofft, zu einer größeren individuellen Autonomie und Selbstbestimmung geführt hat, sondern zu Isolation und Entfremdung.

Das Totalitäre im rationalen Denken

Der Schriftsteller warnt in seinen Werken The Unconscious Civilization (1995), Voltaire’s Bastards: The Dictatorship of Reason in the West (1992) und Equilibrium (2001) vor der Instrumentalisierung des Rationalen, das in die Diktatur der Vernunft münden kann. Dies ist dann der Fall, wenn rationale Denkstrukturen als kanonisierte Lesarten totalitäre Züge annehmen:Vor lauter selbstzerstörerischer Besserwisserei und Überlegenheitsgefühlen werten wir alternative und vor allem kritische Ansichten ab.

Nach Saul funktioniert Demokratie und Teilhabe nur im nahen Lebensmittelpunkt – wir sind letztlich allein verantwortlich für unsere Umgebung. Das steigende Selbstinteresse der Individuen und die Annahme, dass alles über den globalen Markt geregelt wird, signalisiert das Ende der Demokratie. Die Abgabe der Verantwortung an den liberalen Wirtschaftsmarkt und an andere wirtschaftliche Interessengruppen führt zu weniger politischen Teilhabe künftiger Generationen.

Als Menschenrechtsaktivist  setzt er sich seit 2009 als Präsident des internationalen PEN Clubs nicht nur für die Interessen der Publizisten ein, sondern macht in Tagungen und Vorträgen wie demnächst am 15. Februar 2014 bei den 18. Karlsruher Gesprächen auf die weltweit zunehmende Zensur und Redefreiheit sowie Repressionen gegen inhaftierte und verfolgte Schriftsteller und Journalisten aufmerksam.

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Gesucht: Menschenrecht für alle

Der Bürgerkrieg in Syrien und die Todeslager Nordkoreas sind nur zwei Beispiele von Menschenrechtsverletzungen. Die Situation  vieler Menschen weltweit ist aussichtlos. Können wir diese Tatsache in unseren Alltag einbauen? Hoai Thuong Truong kommentiert.

Freiheit und Würde des Menschen haben sich noch nicht überall durchgesetzt. (Bild: Peter Reinäcker/pixelio.de)
Freiheit und Würde des Menschen haben sich noch nicht überall durchgesetzt. (Bild: Peter Reinäcker/pixelio.de)

Wir erfahren durch die Medien, dass viele Menschen immer noch unter Missbrauch und Gewalt leiden. Weil es uns in Europa gut geht, blenden wir jedoch oft Fragen nach Gerechtigkeit aus. Am 10. Dezember 2013 war wieder „Tag der Menschenrechte“. Nichtregierungsorganisationen, nationale Institutionen und zahlreiche Akademiker haben den Tag genutzt, um gemeinsam der Weltkonferenz über Menschenrechte von 1993 zu gedenken. Das Ergebnis dieser Konferenz war die Wiener Erklärung und das Aktionsprogramms für Menschenrechte. Nach dieser Erklärung sollen die Menschenrechte mehr Anerkennung bekommen. Sie fordert die einzelnen Staaten dazu auf, Menschenrechte im eigenen Land zu schützen und zu fördern. Amnesty International hat aber mehrere Beispiele von aktuellen Menschenrechtsverletzungen aufgezählt und gezeigt, dass es in diesem Feld noch vieler Handlungen bedarf.

Kein Ende für Misshandlungen

Durch das Grundgesetz genießen wir als deutsche Bürger das Recht auf Leben und Freiheit. Dieses Recht ist in anderen Ländern noch lange keine Selbstverständlichkeit. Meinungsfreiheit und Demokratie bleiben für die Bevölkerung vieler Länder nur leere Wörter. Am 4. Dezember 2013 äußerte Amnesty International Deutschland, dass in Russland immer noch „drastische Einschränkungen der freien Meinungsäußerung sowie der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit“ vorherrschen. Im syrischen Bürgerkrieg sind seit dem Aufstand im März 2011 mehr als 100.000 Menschen ums Leben gekommen. Baschar al Assad will alle Rebellen bekämpfen, die eine Demokratisierung Syriens herbeiführen und sein Regime stürzen wollen.

Blicken wir einmal auf Eritrea, wo nur Christen und Muslime ihren Glauben praktizieren dürfen. Der Staat bestraft alle Angehörigen anderer Glaubensgemeinschaften mit Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen. Jährlich versuchen viele Eritreer dem Leid in ihrem Land zu entkommen und wagen eine Flucht nach Europa.

Auch in Asian sind Menschenrechtsverletzungen ein aktuelles Problem, das bekannteste Beispiel ist Nordkorea. Hier sind Festnahmen mit Misshandlungen immer noch Alltag vieler Menschen. Viele Frauen Nordkoreas bleiben Opfer von Vergewaltigungen und sexuellem Missbraucht. Zwangsarbeit, Folter und gerichtliche Hinrichtungen werden immer noch als legal geduldet. Dem Menschenrechtsaktivist Shin Dong-huyk gelang zwar die Flucht aus dem Lager, wo er viele Jahre als Gefangener gefoltert wurde, doch die meisten seiner Mitinhaftierten befinden sich immer noch in der Gefangenschaft. Niemals werden sie ein Leben in Freiheit und Würde führen.

Wir können nur tatenlos zusehen

Die Tragödie um die Menschenrechtsverletzungen ist ein zu großes Feld, um sie von heute auf morgen zu bekämpfen. Wir in Europa wissen noch viel zu wenig über die Menschenrechte in anderen Teilen der Erde. Vielleicht können wir alle gemeinsam einen Beitrag zur Verbesserung der Menschenrechtssituation leisten. Aber die Mehrheit der deutschen Bevölkerung kann sicherlich eine Menge an privaten Sorgen aufzählen, mit denen sie sich täglich beschäftigt. Dazu gehören Leistungsdruck und Zukunftsangst. Sie hat Angst um ihren Job, ihren Wohlstand und ihr Geld. Viele kaufen ihre Kleider bei Modeketten ein, ohne deren Produktion und Herkunft auf den Grund zu gehen. So stürmt in Karlsruhe seit ende November 2013 eine Schar von jungen Menschen die irische Modekette Primark und spart dabei viel Geld für Mode. Die Frage nach Zwangsarbeit und Ausbeutung gerät in den Hintergrund.

Dann machen wir uns etwa Gedanken über Kosmetika, die ohne Tierversuche hergestellt werden. Wir ergreifen  Maßnahmen gegen Tierquälerei wollen aber nicht das Leid der Tiere über das der ausgebeuteten und gefolterten Menschen stellen. Doch jene leben auf der andere Seite der Welt. Zu groß ist die Distanz, als dass wir die dortige Menschenrechtssituation konkret ins Auge fassen können. Dann sorgen wir uns um unsere Marktwirtschaft oder um eine ökologische Energiegewinnung, all die Dinge, die unser Leben in Deutschland unmittelbar beeinflussen. Die Gedanken an die Menschenrechtsverletzungen gehen im Alltagstrubel unter. Nein, wir schauen nicht aus Ignoranz und Egoismus weg. Vielleicht übersehen wir auch ein bisschen aus Bequemlichkeit die Dringlichkeit des Problems. Denn was können wir als Einzelpersonen schon beeinflussen?

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