Ingo Schulze über den globalen Markt

Am Sonntag, 16. Februar 2014, las Ingo Schulze im Rahmen der Karlsruher Gespräche im Studio des Badischen Staatstheaters eine Passage aus seinem Erzählband 33 Augenblicke des Glücks und das Vorwort seiner jüngsten Veröffentlichung Unsere schönen neuen Kleider. Hoai Thuong führte nach der Lesung mit dem Autor ein persönliches Gespräch über die Weltmarktgesellschaft.

Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)
Ingo Schulze: Wir könnten alle anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück (Bild: ZAK/ Felix Grünschloss)

„Des Kaisers neue Kleider“ – Wann haben Sie das Märchen zum ersten Mal gehört oder gelesen und was hat Ihnen dabei besonders gefallen?

Natürlich als Kind, wie wohl die meisten von uns. Wie ich damals darauf reagiert habe, weiß ich nicht mehr, aber es wird mir wohl gut gefallen haben. Vielleicht fand ich das Märchen auch zu unwahrscheinlich. Womöglich hatte es mich gefreut, dass ein Kind der vermeintliche Held dieser Geschichte ist. Später dachte ich, ich kenne das Märchen gut. Aber wenn man es noch einmal aufmerksam liest, entdeckt man plötzlich so viel. Und der Schluss ist doch ganz anders, als es die allermeisten in Erinnerung haben: Der Kaiser glaubt zwar, dass das Volk recht habe, aber er meint, nun weiter durchhalten zu müssen. Und sein Hofstaat tut es ihm gleich. Wobei ich mir sicher bin, dass sich durch den Ruf des Kindes und letztlich durch den Ruf des Volkes schon etwas verändern wird: Der Kaiser geht fortan anders durch die Welt.

Sie haben das Märchen später bestimmt immer wieder gelesen, oder? Denn Sie haben es dann in Ihr Buch eingebaut.

Es war die Überlegung, dass etwas, das eigentlich offensichtlich ist, nicht als offensichtlich wahrgenommen wird. Das war der Ansatz, dieses Märchen nochmal zu lesen.

Wir können die Rollen frei wählen

Wer spielt für Sie in unserer gegenwärtigen Gesellschaft die Rolle des Königs, wer die der Dienerschaft und wer könnte das Kind sein?

Wenn man Demokratie beim Wort nimmt, dann sind wir alle der König – Wir Wähler und Bürger dieses Landes. Wir haben uns etliche neue Kleider verpassen lassen. Diese neuen Kleider können „Wachstum um jeden Preis“ heißen, sie können „Privatisierung um jeden Preis“ heißen. Auf jeden Fall heißen sie nicht: „Was wollen wir? Was ist gut für uns?“. Also, insofern sind wir der Souverän, der König, der sich anschmieren lässt. Aber wir könnten auch die anderen Rollen alle selbst besetzen – zum Glück!

Dann möchte ich gleich den Begriff „Privatisierung“ aufgreifen. In Ihrem Buch verwenden Sie dieses Wort als Gegenbegriff für „Gemeinwesen“. Bedeutet für Sie mehr Gerechtigkeit also auch mehr Gemeinschaft und weniger Individuum?

Die Schwierigkeit ist, dass man bei der Privatisierung fragen muss, wo sie sinnvoll und wo sie nicht sinnvoll ist. Dort, wo es Monopolsituationen gibt, ist Privatisierung Unsinn – also bei der Wasser- und Stromversorgung. Es gibt auch Bereiche, wo ich es unwürdig finde, zu privatisieren. Gerade bei der Bildung und beim Gesundheitswesen ist es oft fragwürdig, marktwirtschaftlich denken zu müssen. Wenn Sie zum Beispiel immer fragen müssen: Was bringt mir dieser Patient? Der Patient wird zum Kunden und das halte ich für etwas ganz Fragwürdiges, das lehne ich ab. Man fragt ja auch nicht den Pfarrer, wie viele Beerdigungen er gemacht hat. Wenn man bei der Feuerwehr sagen würde, je mehr Brände es gibt, desto mehr Geld bekommt ihr, würden dann nicht Feuerwehrleute auch einen Brand legen? Ich glaube nicht, dass „privatisiert“ immer gut ist und „nicht privatisiert“ immer schlecht. Man muss grundsätzlich darüber reden. Es gibt da auch Grenzbereiche, zum Beispiel in der Rüstung oder in der Pharmazie.

Es ist leicht den Verstand zu verlieren

Fragwürdig finden Sie ja auch den Begriff der „marktkonformen Demokratie“. Mit welchen Wörtern würden Sie aber einen „demokratiekonformen Markt“ beschreiben?

Im demokratiekonformen Markt spielt die anzustrebende Gerechtigkeit eine große Rolle. Grundsätzlich ist nachzudenken, was unsere Gesellschaft braucht und was nicht. Sicherlich darf so etwas nicht diktatorisch entschieden werden, aber man kann bestimmte Dinge auch über Steuern regeln. Nicht jeder Quatsch, der Rohstoffe kostet, muss zu Billigpreisen aus China eingeführt werden. Demokratiekonforme Märkte haben sehr viel mit Gerechtigkeit zu tun, aber eben auch mit der Frage „Was brauchen wir eigentlich für Güter und wo kommen sie her?“. Viele Rohstoffe, gerade für die Handy- oder Computerproduktion, kommen aus sogenannten Konfliktzonen. Wenn man sich vor Augen hält, was da eigentlich passiert, verliert man den Verstand.

Sehen Sie im Fair-Trade-Handel eine Lösung?

Fair-Trade ist ja schon ein Markenzeichen geworden. Aber natürlich, ob ich das nun gerechten oder fairen Handel nenne, zeigt gerade der Begriff wie marginal diese Art Handel ist. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein.

Das wollen wir und das wollen wir nicht

Der „Markt“ ist ja auch ein Thema der diesjährigen Karlsruher Gespräche. Wie ist denn Ihre Meinung zum globalen Markt und sehen Sie auch Vorteile oder Chancen in der Globalisierung?

Die Frage ist, was ist heute noch Markt. Das, was wir bisher unter „Markt“ und „Börse“ verstanden haben, ist sehr marginal geworden. Wenn die Verweildauer einer Aktie bei 22 Sekunden liegt und die Computerprogramme bei deren Verkauf und Kauf mit Nanosekunden rechnen, dann hat das natürlich nichts mehr mit „Markt“ zu tun. Das ist nur noch Spekulation. Und Spekulationen sind nicht unbedingt etwas, das dem Gemeinwesen gut tut. Als Gemeinwesen sollten wir sagen, das wollen wir und das wollen wir nicht. Man hat an der Finanzkrise gesehen, wie schnell sogar Banken verstaatlicht werden konnten. Die Regeln können geändert werden, auch wenn das nicht einfach ist, weil es Interessensgruppen gibt. Ich frage mich nur, warum man einer verschwindenden Minderheit erlaubt, zu spekulieren, obwohl man weißt, dass es für die Mehrheit nicht gut ausgeht.

Sie haben gegen Ende 2013 einen Aufruf gegen die große Koalition gestartet. Stellen wir uns mal vor, eine Koalition zwischen der SPD, den Grünen und den Linken wäre zustande gekommen. Wie würde sich der Markt denn unter dieser Regierung entwickeln?

Ich bin skeptisch geworden, oder sagen wir mal so: Parteien verhalten sich im Wahlkampf anders, in der Opposition anders und als Regierungsparteien anders. Aber ich habe da einerseits keine Illusionen und anderseits glaube ich, dass in einer rot-rot-grünen Konstellation die Chance größer ist, bessere und auch gerechtere Gesetze zu machen. Aber was wäre wenn, ist schwer einzuschätzen. Gerade die SPD hat als Regierungspartei oftmals eine Politik verfolgt, die gar nichts mehr mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hatte. Die sozial-ökonomische Polarisierung dieser Gesellschaft ist leider gerade unter Rot-Grün enorm vorangetrieben worden. Es ist zwar keine Sache, die mit großem Hurra passierte. Aber bis heute hat man nicht wirklich anerkannt, welchen Mist man gebaut hat.

Zum Schluss habe ich noch eine Frage über die Zukunft. Wie geht es Ihrer Meinung nach mit der Weltmarktgesellschaft weiter? Welche Themen werden unsere Gesellschaft in fünf oder zehn Jahren beschäftigen?

Es fällt mir ganz schwer, darauf zu antworten. Weil es natürlich eine Entwicklung gibt, die diesem ganzen Wahnsinn noch verstärkt. Es geht immer mehr, oder ausschließlich, um Profit. Ob es nun heute oder in zehn Jahren ist – es ist heute genauso falsch wie eben in zehn Jahren. Je länger diese Einstellung besteht, umso mehr Unglück verursacht sie und umso mehr unwürdige Verhältnisse produziert sie – unsinnige Verhältnisse. Ob jemand eine Milliarde hat oder zehn Milliarden, spielt letztlich keine Rolle für das Privatleben desjenigen. Aber ihm oder ihr wächst dadurch eine ungeheure Macht zu. Ob diese dann verantwortungsvoll genutzt wird, ist sehr fraglich, vor allem, wenn sie unkontrolliert genutzt wird.

Herr Schulze, vielen Dank für das Gespräch!

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