Bruttonationalglück im Himalayastaat

Beim Symposium am 23. Februar 2013 erhielten die zahlreichen Besucher der 17. Karlsruher Gespräche einen Einblick in die Geschichte und die aktuellen Entwicklungen von Bhutan. In ihrem Beitrag „Kulturerbe zwischen Tradition und Moderne“ stellte Professorin Susanne von der Heide Bhutans ungewöhnlichen Weg zur Bewahrung seiner kulturellen Traditionen vor. Ein Nachbericht von Irina Brombacher.

Prof. Susanne von der Heide bei den 17. Karlsruher Gesprächen (Bild: ZAK)
Prof. Susanne von der Heide bei den 17. Karlsruher Gesprächen (Bild: ZAK)

Die Kulturwissenschaftlerin begann ihren Vortrag mit einem Überblick über die Dynastie des bhutanischen Königshauses und dessen Entwicklung zu einer konstitutionellen Monarchie unter König Jigme Singye Wangchuk. Als dieser im Jahr 2006 zurück trat, übernahm sein Sohn Jigme Khesar Namgyel Wangchuk im Alter von gerade mal 26 Jahren das Amt. Als fünfter Drachenkönig trieb er den Demokratisierungsprozess weiter voran. Die ersten Parlamentswahlen des Landes fanden im März 2008 nach dem Prinzip des britischen Wahlsystems statt.

Ziel ist das nationale Glück

Eine politische Besonderheit des asiatischen Landes stellt die staatliche „Kommission für das Bruttonationalglück“ dar. Mit dieser soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die Wirtschaftspolitik Bhutans buddhistischen Werten wie Mitgefühl und Selbstlosigkeit, sowie dem Erhalt des Kulturerbes unterordnet. Das politische Handeln ist demnach nicht auf wirtschaftliches Wachstum ausgerichtet. Vielmehr wird alles daran gesetzt, um die Harmonie von Tradition und Umwelt aufrechtzuerhalten und das seelische Wohlbefinden der Bhutaner zu gewährleisten.

Aus Angst vor einer Verflachung der konventionellen Gebräuche und Sitten isolierte sich Bhutan sowohl wirtschaftlich als auch kulturell von der restlichen Welt. Erst in den letzten Jahrzehnten öffnete sich die Regierung langsam der modernen Technik und Lebensart. So wurde Fernsehen und Internet 1999, Mobiltelefon 2004 offiziell eingeführt und auch dem Tourismus gewährt man heute in kleinen Schritten Einlass.

Gleichzeitig ergriff der Staat zahlreiche Maßnahmen zur Sicherung des Kulturguts. Ein Beispiel hierfür ist die Errichtung einer Schule für ausschließlich traditionelle Handwerksberufe wie Stoffmalerei, Webhandwerk oder Holzschnitzerei. Auch ist es per Gesetz vorgeschrieben, dass neu gebaute Häuser mit den tradierten buddhistischen Mustern und Motiven zu verzieren sind. Ebenso ist es Pflicht beim Betreten von Tempeln, Regierungsgebäuden und Dzongs (historische Klosterfestungen) die traditionellen Gewänder zu tragen.

Bhutan will nicht auf die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO

Das Tigernest-Kloster über dem Paro-Tal in Bhutan (Bild: asien-news.de)
Das Tigernest-Kloster über dem Paro-Tal in Bhutan (Bild: asien-news.de)

So sehr sich Bhutan auch bemüht, das Jahrhunderte alte Kulturgut geht jedoch verloren: Brände zerstörten bereits einige der bedeutendsten Tempelanlagen des Landes – darunter auch das „Tigernest“, eine berühmte Klosteranlage in den Felswänden des Himalayas und gleichzeitig eines der bhutanischen Wahrzeichen. Um Bauten oder Gemälde von derart hohem kunsthistorischem und kulturellem Wert besser zu schützen, wollte die UNESCO diese auf ihre Liste des Weltkulturerbes setzen, doch die bhutanische Regierung lehnte ab.

Dies hat zwei Gründe, wie die Himalaja-Expertin von der Heide erklärt. Zum einen liege es an den Lehren des Buddhismus nach denen die Bhutaner leben und welche sie bei all ihren Entscheidungen berücksichtigen. Nach der buddhistischen Tradition ist nichts für die Ewigkeit geschaffen, Altes soll erneuert und nicht restauriert werden. Diese Ansicht steht dem Prinzip der UNESCO, historisches Kulturgut auch durch Restauration zu erhalten, gegenüber. Zum anderen befürchte man in Bhutan, dass die eigene Entscheidungsfreiheit bei einem Vertrag mit der UNESCO erheblich eingeschränkt werde.

Bei ihrem Vortrag nahm die Kulturwissenschaftlerin ihre Zuhörer mit in eine Welt, die sich für das Publikum wunderbar fremd und geheimnisvoll darstellt. Die faszinierenden Bilder von prächtigen Tempeln, Menschen in farbenfrohen Gewändern und unberührter Natur erwecken den Eindruck, dass in Bhutan die Zeit still steht. Doch der Schein trügt, das letzte buddhistische Königreich des Himalajas hat die Schwelle zur Moderne bereits überschritten. Nun ist die Hoffnung da, dass es Bhutan gelingt einen Weg zu finden, seine kulturelle Identität im Einklang mit neuzeitlichem Fortschritt zu bewahren.

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Schauplatz Syrien: Die Welt versagt

Tiefe Bewegung, schockierte Gesichter und das eine oder andere feuchte Auge gab es beim Symposium der 17. Karlsruher Gespräche als Salam Kawakibi, wissenschaftlicher Direktor der Arab Reform Initiative in Paris seinen Vortrag hielt. Sandra Seltenreich berichtet.

Salam Kawakibi über das Blutvergießen in Syrien (Bild: ZAK)
Salam Kawakibi über das Blutvergießen in Syrien (Bild: ZAK)

Es ist kein Krieg, fängt Kawakibi an, sondern eine Revolution, denn es wird gegen Bürger gekämpft. Friedliche Demonstrationen fordern hunderte Tote. Gewalt ist die einzige Reaktion der Regierung. „Nicht mal Kafka könnte das ausreichen beschreiben“, sagt Kawakibi über die Situation in Syrien.

Die Zahlen sind erschreckend: 90 000 Tote, drei Millionen Vertriebene, eine Million Flüchtlinge, fünfzig Prozent der Infrastruktur des Landes sind zerstört. Das Regime kämpft mit Flugzeugen und Raketen und zerstört Dörfer und Städte. Im Westen heißt es, dies sei ein „russisches Problem“. Kawakibi bezeichnet diese Abwälzung von Verantwortung als widerlich.

Während seines Vortrags präsentiert der Wissenschaftler Werke junger Künstler in Syrien. Diese Bilder machen deutlich, was Menschen dort verarbeiten und verkraften müssen, aber auch, dass sie noch voller Hoffnung sind. Auf den Darstellungen sind öfters Engel zu sehen, die mittels großer Seifenblasen oder mit bloßen Händen Bomben abfangen. Es gibt Flüchtlingslager über dem Friedenstauben schweben oder ein in Rottönen gehaltenes Röntgenbild mit Einschussloch.

Keine Hilfe für Syrien, aber weiterhin Hoffnung

Kawakibi sagt, dass die syrische Regierung zwar Angaben zu Hilfeleistungen macht, dass diese aber nicht zutreffen. Flüchtlinge nimmt nur die Türkei auf. Die Hilfe des Westens läuft nur über die Regierung und diese lässt sie dem Volk nicht zukommen. Kawakibi meint, trotz allem hoffen die Menschen in Syrien immer noch auf Hilfe – wobei sie keinesfalls ein militärisches Eingreifen meinen, sondern es geht ihnen vielmehr um humanitäre Hilfe.

Die Syrer sind kriegsmüde, man könne deshalb von ihnen keine relative Haltung erwarten. Doch sie arbeiten bereits für „den Tag danach“, den Tag, wenn das Töten endet. Aber wie können Themen wie Verfassung, Demokratie, Frauenrechte oder Minderheiten ohne internationale Unterstützung auf die Agenda gesetzt werden?

Schließlich beklagt Kawakibi, dass die Medien nicht darüber berichten, was in Syrien geschieht. Kawakibi unterscheidet dabei klar zwischen Journalist und Medium und sagt, dass die westlichen Journalisten zwar da sind, aber ihre Auftraggeber veröffentlichen die Berichte nicht. Obwohl 70 Prozent des Landes nicht unter dem Regime steht und die Reporter sich frei bewegen können, wollen Medien nur Menschen mit Wunden zeigen und nicht Kinder, Künstler oder die Leute, die sich engagieren. Was fehlt sind politische Nachrichten, denn wenn die Menschen nichts von den Vorgängen in Syrien wissen, stehen die Regierungen auch nicht unter Druck zu helfen.

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Kein Brunnen für Somalia

Der Terroranschlag vom 11. September 2001 hat die Gesellschaft misstrauisch gemacht. Auch gegenüber Nichtregierungsorganisationen. Professorin Jude Howell sprach bei den 17. Karlsruher Gesprächen über Veränderungsprozesse im globalen Zeitalter. Sarah Schauberger fasst den Vortrag zusammen.

Professor Jude Howell über NGOs im globalen Zeitalter (Bild: ZAK)
Professorin Jude Howell über NGOs im globalen Zeitalter (Bild: ZAK)

Sofort ist die Aufmerksamkeit auf die kleine, dynamische Frau gerichtet, die gerade das Rednerpult betritt und ihre Präsentation startet. Professorin Jude Howell beginnt von einer Vision zu sprechen, in der Zivilgesellschaften auf den Gebieten der internationalen Entwicklung und Sicherheit gefördert werden. Sie sollten eine Kontrollfunktion erhalten, um Regierungsmanipulationen aufdecken zu können. Howell stellt in diesem Kontext aber auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen globalen Kriegen und den Zivilgesellschaften.

Aus ihren Forschungsergebnissen ergeben sich dazu zwei konkurrierende Faktoren: Erstens ein enormer Anstieg von Misstrauen und Argwohn gegenüber Interessenverbänden, zweitens die Dynamik korrupter Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen, vor allem in Sicherheits- und Geschlechterfragen.

„Die goldene Ära“ der Zivilgesellschaft

Am Ende des Kalten Krieges, also in den späten 1980er Jahren, hatten die Nichtregierungsorganisationen – kurz NGOs nach Howells Ansicht einen sicheren Stand in der Gesellschaft. Sie wurden von der Regierung und von internationalen Entwicklungsinstitutionen gefeiert, da sie eine Art „Wachhund-Rolle“ erfüllten. Dahinter steckte die Absicht, mehr Transparenz in Währungs- und Haftungsfragen zu erhalten, um eine bessere Regierung und Geschlechterdemokratisierung zu fördern. Regierungen und Zivilgesellschaften arbeiteten in Gemeinwohlfragen zusammen.

Der Wissenschaftlerin zufolge, entwickelte Tony Blair in England zwischen dem Staat und den freiwilligen Organisationen eine neue Form von Engagement. Dabei geht es um eine Vertragsvereinbarung, in der deutlich wird, dass die freiwilligen Organisationen leisten können, was den Regierungen nicht gelingt. Die NGOs stellten aber eine Bedingung, die in Vertrag aufgenommen wurde: Sie erhielten die Möglichkeit die Regierung zu kritisieren. Howell nennt diese Phase der Beziehungen: „The golden Era“.

Schleichendes Misstrauen

Ein entscheidender Faktor im Wandel der Beziehungen zwischen dem Staat und den NGOs sieht die Forscherin im Aufblühen des weltweiten Terrors. Ein Klima der Angst bewirkte, dass NGOs und Caritaseinrichtungen plötzlich mit Misstrauen betrachtet wurden. Man unterstellte den freiwilligen Organisationen – hauptsächlich den muslimischen Gruppen – eine Verbindung zu terroristischen Vereinigungen.

Das „Anti-Terroriste-Certificate“ in den USA

Wenn eine amerikanische freiwillige Organisation beispielsweise in Afghanistan arbeiten möchte, erklärt die Wissenschaftlerin, dann müsste sie vorab ein „Anti-Terroriste-Certificate“ unterschreiben. Damit richtet die USA ein System ein, das jede Organisation bekannt macht, die sich aus US-Geldern finanziert. Die amerikanische Administration erhält so verlässliche Informationen und kann auf die Treue der NGOs schließen. Das Schlüsselproblem sieht Howell in der Balance zwischen Sicherheit und Freiheit und stellt die Frage in den Raum: „Wie viel sind wir bereit für Sicherheit und Schutz zu bezahlen?“

Die praktischen Konsequenzen für die NGO-Arbeit in Konfliktregionen wie in Afghanistan oder dem Irak ergeben sich aus dem Patriot Act von 2001. Dieser besagt, dass Organisationen terroristische Gruppen in keiner Weise materiell unterstützen dürfen. Daraus resultiert unter anderem das gerichtliche Verbot einen Brunnen in Somalia zu bauen. Es besteht nämlich die Befürchtung, es würde jemand von der islamistisch-militanten Bewegung al-Shabaab vorbeikommen, um aus diesem Brunnen ein Glas Wasser zu trinken. Damit wäre die materielle Unterstützung einer terroristischen Gruppierung gewährleistet.

Die Zukunft der Zivilgesellschaft

Howell sieht die Zufriedenheit der NGOs in der Vereinbarung, die Regierung kritisieren zu dürfen. Doch habe sie aus einem englischen Fachbericht erfahren, dass die NGOs sich selbst zensieren, da sie Angst haben die Regierungsunterstützung zu verlieren. In ihren Augen eine beängstigende Entwicklung! Howells jahrelange Arbeit in China, ließ sie zu dem Schluss kommen, dass es dort ausschließlich selbst fördernde NGOs gibt. Sie erklärt, dass die Kommunistische Partei Chinas nichts gegen Zivilgesellschaftsorganisationen einzuwenden hat. Aber es ist ihnen untersagt, Kritik an der Regierung zu üben.

Laut Howell, ist das Beunruhigende, dass die Einschränkungen und Gesetze von 2001 immer noch in Kraft sind. Sie spricht davon, dass wir uns daran gewöhnt haben und sie bereits in unseren Alltag integriert haben. Daher stellt sich die Frage: Wo geht der Trend hin? Was geschieht mit der Beziehung zwischen dem Staat und den freiwilligen Organisationen?

Howells Resümee zum Schluss: „So these are interesting times we live in, maybe an interregular, but there also very worrying times for those who concerned. But I am about the spaces for citizen deliberation and action.“

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Das Spiel der Freiheit

Prof. Volker Demuth ist Essayist, Medienwissenschaftler und arbeitet zurzeit als freier Schriftsteller. In diesem Jahr erschien sein Werk „Stille Leben“. Am 24. Februar war er Gast bei den 17. Karlsruher Gesprächen. Sarah Müller sprach mit ihm über Religion, Moderne und die Gegenwart als neue Zukunft.

Prof. Volker Demuth bei den 17. Karlsruher Gesprächen (Foto: Maren Müller)
Prof. Volker Demuth bei den 17. Karlsruher Gesprächen (Foto: Maren Müller)

„Prof. Demuth, wie geht es Ihnen als Gast der Karlsruher Gesprächen 2013?“

Volker Demuth: „Es ist eine ehrenvolle Aufgabe, hier mit an einer Diskussion teilzunehmen, die ein sehr aktuelles Problem versucht neu zu beschreiben – unter dem Motto ´die Zwischengesellschaft. Tradition und Moderne im Wiederspruch.` Es ist kein neues Thema, aber vielleicht gewinnen wir unter dem Titel neue Aspekte hinzu, die dann vielleicht helfen, die Gegenwart oder die Sicht auf unsere Gegenwart etwas klarer zu machen.“

„Stimmt, das Thema `Moderne und Tradition´ ist kein neues. Aber was genau verstehen Sie unter dem Begriff der Moderne? Und was ist die Zwischengesellschaft?“

Volker Demuth: „Eine mögliche Interpretation beruht auf der Beobachtung von Gesellschaften, die noch in dem Stadium sind, typische Prozesse der Moderne durchzuführen. Da kann man ein paar wichtige Punkte nennen, etwa die Entwicklung eines Rechtsbewusstseins, speziell des Rechts der Freiheit und der entsprechenden Individualrechte wie dem Recht der Meinungsfreiheit. Das Zweite ist, dass wir den Begriff einer für alle verbindliche Wahrheit problematisieren und diese einem Begriff von Wahrheit gegenüberstellen, der auf dem Konzept von Wissen und Wissenschaft beruht. Jenes ist forschend und geht davon aus, dass wir es nicht besitzen, sondern dass wir es irgendwann vielleicht erreichen können. Der Prozess ist nie abgeschlossen: Niemand hat in diesem Bereich die Wahrheit. Viele der alten Systeme beanspruchen die Wahrheit zu besitzen. In einem modernen Konzept löst sich dies jedoch auf. Der dritte Punkt ist, der Bereich der Öffentlichkeit. Hier bekommen auch andere Modernisierungsprozesse ihre Bühne. Hier wird das Spiel der Differenz durchgeführt. Der Prozess der Moderne ist immer unabschließbar und wird immer wieder neu verhandelt werden müssen. Der Begriff der Zwischengesellschaft beschreibt eben das Dazwischenstehen und Neubedenken der Situation, die da ist, und eines vielleicht besseren Entwurfes.“

„Das Spiel der Differenz – meint das auch, dass wir nicht immer alles ganz ernst nehmen müssen?“

Volker Demuth: „Zu diesem Spiel gehört in der Tat ein souveräner Umgang mit unseren Meinungen. Wir dürfen uns ohne weiteres stets selbst die Frage stellen, weil wir immer davon ausgehen müssen, dass wir morgen schon eine andere Sicht von den Dingen haben als noch heute. Das heißt, es entsteht eigentlich ein sehr schöner, kultureller Spielraum: wir führen durchaus Ironie, Polemik, auch eine Art von Theatralik in unsere eigene Lebensführung ein. Wir können ganz unterschiedliche Lebensstile fast zur gleichen Zeit ausagieren. Wir können in einer ironischen Weise, eigene Positionen vertreten und sie dann wiederrum auch in Frage stellen. Das gehört zu der Möglichkeit dieses freien Lebens dazu.“

„Sie meinen mit dem Begriff des Spiels also auch eine Art von Selbstreflexion in der Moderne?“

Volker Demuth: „Richtig. Die Moderne bedenkt sich permanent selbst. Ich glaube, um auf den Begriff der Zwischengesellschaft zurückzukommen, dass wir momentan in der westlichen Kulturrealität dort angelangt sind, wo wir neu bedenken müssen, wie wir dieses Spiel der Differenz aufstellen. Zu diesem modernen Spiel gehörte immer unser Glaube, die Zukunft müsse sich von der Gegenwart abgrenzen und unterscheiden. Daraus hat die Zukunft ihren Glanz gewonnen. Die Faszination, die von der Zukunft ausging und die dann die Gegenwart mit ihrer Kraft versehen hat, ist, glaube ich, verbraucht. Wir alle, wenn man vielleicht etliche Techniker oder Technikwissenschaftler außen vor lässt, sind eigentlich nicht mehr sehr erpicht auf die Zukunft. Wenn man sieht, was uns da versprochen wird, von der Nanotechnologie über die Mensch-Computer-Schnittstellenentwicklung bis hin zu Tissue Engineering: Die Zukunft macht uns nicht wirklich Spaß. Seit gut einem Jahrzehnt reagiert die Kultur darauf. Und jetzt beginnt ein neues Spiel: Nämlich Zwischengesellschaft so zu beschreiben, dass sie gar nicht mehr in die Zukunft will, sondern dass sie immer in diesem Dazwischen bleibt.“

„Die Zwischengesellschaft ist ihrer Meinung nach heutzutage also nicht mehr zukunfts-, sondern gegenwartsbezogen?“

Volker Demuth: „Genau. Die Gegenwart selbst wird als ein Zustand aufgefasst, der von einer Zwischengesellschaft bestimmt wird, die sich auch im Grunde als sehr positiv entwickelt. Ein Indiz dafür könnte sein, dass wir seit einer gewissen Zeit nicht mehr die Avantgarde haben. Das Konzept der Avantgarde ist weitgehend gestorben. Was wir haben sind Retrospektive. Das heißt, wir nehmen die Tradition in das Spiel der Differenz hinein. Wir ziehen Trachten an und gehen aufs Oktoberfest, ohne konservativ zu sein. Wir spielen sozusagen durch rekursive Aufnahmen von Vergangenheitsmöglichkeiten und Gegenwartsmöglichkeiten das Spiel der Zwischengesellschaft.“

„Bei den Karlsruher Gesprächen stand auch das Thema Religion im Programm. Welche Rolle weisen Sie nicht nur der Tradition, sondern der Religion in der Moderne zu? Wie wichtig ist der Glaube in der heutigen Zeit?“

Volker Demuth: „Zunächst einmal ist für mich erstaunlich, dass in diesen drei Tagen hier sehr viel von Religion die Rede war – in einem Maß, das ich schon lange nicht mehr erlebt habe. Das stimmt mich ein Stück weit bedenklich, denn Religion ist immer Teil einer modernen Gesellschaft gewesen. Religion an sich ist noch nie traditionell gewesen und auch überhaupt nicht vormodern. Religion gehört zu jeder Gesellschaft, die sich als modern definiert, und zwar deshalb, weil auch Religion in dem Feld des Spiels der Freiheit seinen akzeptierten Platz hat. Man kann konservativer oder auch aufgeschlossener in seinem Religionsverständnis sein. Insofern sehe ich die Religion immer als einen wichtigen Teil einer Gesellschaft, aber eben auch als etwas, über das wir in einer offenen Weise diskutieren müssen.

„Haben sie eine persönliche Verbindung zur Religion?“

Volker Demuth: „Ja. Ich stamme aus einem süddeutschen, stark christlich-katholischen Elternhaus. Klassischerweise war ich religiös engagiert und habe kurzzeitig auch mal ein Priesterseminar besucht, um die Priesterlaufbahn einzuschlagen Was ich jedoch ganz schnell aufgegeben habe, nachdem ich die Realität dort kennen lernte. Ich habe mich dann dem Studium der Literatur und der Philosophie zugewendet. Hier sah ich auch schnell die Differenz: In der Philosophie versuche ich offen zu denken. Sobald ich innerhalb eines religiösen Systems bin, dann habe ich schon ein geschlossenes Interpretationsmodell vor mir liegen, gegen das ich dann nur noch ein Stück weit angehen, was ich aber nicht vollständig über Bord werfen kann.“

„Zum Abschluss würde ich gerne wissen, wie Ihnen die Karlsruher Gespräche 2013 insgesamt gefallen haben.“

Volker Demuth: „Für mich waren es drei sehr interessante Tage mit vielen Denkanstößen. Es gab viele interessante Vorträge und Diskussionen. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass gerade die Fragestellungen der Diskussionsrunden etwas offener gestaltet und nicht auf ein spezielles Thema fixiert gewesen wären.“

„Ich bedanke mich für ihre Zeit!“

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Die lange Nacht der kleinen Revolutionen

Mit der Dokumentation „Afghanische Frauen am Steuer“ von Sahraa Karimi startete die Arte- Filmnacht der 17. Karlsruher Gespräche. Spannende Dokus und überraschende Reportagen standen auf dem Programm. Johanna Fischer war da und fasst den Abend zusammen.

„Das kann mir keiner mehr nehmen!“, sagt die 30-jährige Soheyla stolz in die Kamera. Gemeint ist damit ihr Führerschein, den die Afghanin trotz aller Widrigkeiten gemacht hat. Autofahren ist für sie gleichbedeutend mit Freiheit. Sie erzählt von ihrem Traum: Ein Auto und eine endlose Straße vor sich. Niemand der sie einschränkt. Nur sie und ihr Auto. Die absolute Freiheit.

Die Dokumentation begleitet vier Frauen auf ihrem Weg zum Führerschein. Eine Etappe auf dem Weg zur Emanzipation. Die Frauen kommen aus völlig verschiedenen Gesellschaftsschichten. Malihe, die Ärztin, die nicht mehr ihren Nachbarn fragen will, ob er sie zur Arbeit fährt, wenn ihr Mann nicht zuhause ist. Sodeje, deren Mann im Krieg ein Bein verloren hat und die einen Job sucht um ihre neunköpfige Familie zu unterstützen. Sina, die Lehrerin und Soheyla, eine alleinerziehende Mutter, die sich den Traum vom Führerschein schon verwirklicht hat.

Das Musical von der Verdammnis

Revolutionär geht es weiter mit „Missionare im Gleichschritt – die Jesus Revolution Army“ einer Dokumentation von Britta Mischer und Haike Stuckmann. Begleitet werden junge Menschen während ihrer Ausbildung zu Missionaren. Der Alltag ist militärische organisiert. Sechs Uhr: Aufstehen. Noch vor dem Frühstück eine Stunde Meditation mit Gott. Nach dem Frühstück drei Stunden Tanztraining für die anstehende Konzertreise durch ganz Europa. Hier führen die Missionare ihr Musical „The End of the Ages“ auf. Prophezeit wird den Zuschauern die Verdammnis. Die einzige Rettung: Jesus Christus. Am Ende der Vorstellung sieht man weinende Kinder, die erleichtert sind, dass Jesus sie retten wird.

Vier Monate dauert die Ausbildung zum Missionar, danach kommen acht Monate Missionarsarbeit dazu. Umsonst ist das ganze natürlich nicht: 750 Euro pro Monate sind von den Teilnehmern zu entrichten. Stephan Christiansen, der Gründer der Jugendbewegung, zieht die Jugendlichen bei seinen Auftritten in seinen Bann. Man sieht Anhänger die im Gottesdienst vom heiligen Geist beseelt, unbekannte Wörter von sich geben. Bei aller Anstrengung modern und jugendlich zu erscheinen, ist der Kern der religiösen Bewegung eine fundamentale Auslegung der Bibel. Für Homosexualität, Sex vor der Ehe oder gar die Evolutionstheorie ist hier kein Platz.

Erst häkeln dann beichten

Sündiges Kunsthandwerk aus Koniaków (Bild: Arte)
Sündiges Kunsthandwerk aus Koniaków (Bild: Arte)

Für eindeutig mehr Sympathien im Publikum sorgen „Sündige Maschen made in Polen“. Dorothe Dörholt führt die Zuschauer in das polnische Bergdorf Koniaków. Weltweit bekannt für sein traditionelles Handwerk in Form von gehäkelten Tischdecken. Aber die Tischdecken verkaufen sich nicht mehr und die Frauen des Dorfes waren gezwungen auf andere Weise das Überleben ihrer Familien zu sichern. „Stringis“ lautet die sündige Antwort auf das Problem. Frauen jeden Alters häkeln hier inzwischen Unterwäsche und verschicken sie in die ganze Welt. Und sie passen sich ihrer Klientel an. Große Größen für die USA, kleine für Japan.

Die Älteren des Dorfes sehen das nicht gern – vor allem die Männer. Für den Papst hätten sie gehäkelt, ihre Tischdecken liegen in Königshäusern und jetzt bedecken sie Hintern, empört sich der Ehemann einer 75-jährigen Stringishäklerin. Trotzdem übernimmt er inzwischen die Hausarbeit, während seine Frau häkelt. Die Frauen häkeln weiter, auch wenn manch eine nach jedem fertigen „Stringi“ erst mal zur Beichte geht.

Pop Islam steht als nächstes auf dem Programm. Die Dokumentation von Ismail Elmokadem aus dem Jahre 2010 zeigt den steinigen Weg des religiösen Musiksenders „4Shbab“. Kann man moderner Musikliebhaber und trotzdem ein guter Muslim sein? Das ist die Frage, der die Dokumentation nachgeht. Der Gründer des Musiksenders ist davon fest überzeugt. Stößt dabei aber immer wieder auf Widerstand von religiösen Würdenträgern. Aber er kämpft weiter für seine Idee, auch wenn er sich manchmal fragt: „Wenn Gott allmächtig ist, warum macht er es mir dann nicht ein bisschen leichter?“

Die Suche nach der verlorenen Zeit

Wen diese Eindrücke hungrig gemacht haben, der konnte sich im Foyer bei Suppe, Brot und Wein beim vorgezogenen Mitternachtsimbiss stärken. Um Mitternacht ging die Filmnacht mit „Speed- Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in die letzte Runde. Der Dokumentarfilmer Florian Opitz hat sich die Frage gestellt, warum er immer weniger Zeit hat. Auf der Suche nach Antworten begegnet er Zeitmanagement-Gurus, Burnout-Experten oder Zukunftsforschern. Als Gegenpol besucht er unter anderem die Bergbauernfamilie Batzli im Berner Oberland oder den Minister für Bruttonationalglück in Bhutan. Die Lösung, auf die Florian Opitz am Ende kommt, ist eigentlich ganz unkompliziert: Einfach mal öfter Rechner und Smartphone ausschalten.

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