Eine Rede für einen „demokratiekonformen Markt“

„Arbeitnehmer“ sind eigentlich „Arbeitgeber“, weil sie ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Und was versteht Angela Merkel unter einer „marktkonforme Demokratie“? Ingo Schulze stellt Begriffe infrage, die sich mit der Demokratie in Deutschland eingebürgert haben. Weil „Welt(markt)gesellschaft“ Thema der 18. Karlsruher Gespräche war, präsentierte Ingo Schulze am gestrigen Sonntag sein Buch zu dieser Rede. Hoai Thuong hat das Buch gelesen.

Ingo Schulzes Rede im Buchformat (Bild: Hoai Truong)
Ingo Schulzes Rede im Buchformat (Bild: Hoai Truong)

Unsere schönen neuen Kleider ist eine Überarbeitung von Ingo Schulzes Rede, die er 2012 in Dresden gehalten hat. Eine Hauptfigur oder einen Akteur gibt es nicht. Er selbst spricht als Ingo Schulze. Nachdem er schon in Dresden zur Sprache gebracht hat, „dass eine marktkonforme Demokratie keine Demokratie mehr ist“ (S. 17), äußert er im Buch nochmals schriftlich seine Meinung. Er stellt einen paradoxen Bezug zwischen Demokratie und Markt her, wobei er unter „Markt“ vor allem die Finanzmärkte meint. Zu Beginn beschreibt er, wie eine „marktkonforme Demokratie“ das Leben in Deutschland beeinflusst. Gegen Ende des Buches geht er in die globalen Folgen von Privatisierungen über.

Zunächst aber schlüpft er in die Rolle des Märchenerzählers und erzählt dem Publikum das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersen.

Ein kleiner Exkurs in die Märchenwelt

Es war einmal ein Kaiser. Er trägt am liebsten die prächtigsten Kleider aus den schönsten Stoffen. Diesen Stoffen können wir einen Namen geben: die DDR. Als zwei Betrüger ins Land kommen, die ihm noch prächtigere Kleider aus noch besseren Stoffen weben wollen, freut sich der Kaiser sehr. Denn er hofft, mit den neuen Kleidern noch besser auszusehen. Keiner im Land traut sich, die Wahrheit über diese Kleider zu sagen. Stattdessen loben sie die Kleider in den höchsten Tönen, obwohl sie sie gar nicht sehen können. Sie wollen nicht unverzeihlich dumm oder ihrem Amt unwürdig sein. Als schließlich ein kleines Kind ruft: „Aber er hat ja gar nichts an!“, wird die Wahrheit enthüllt. Der Kaiser trägt ja als Gewand die Demokratie! Am Ende des Märchens wechselt der Redner fast unmerklich in die Rolle des Kindes und offenbart dem Volke die Wahrheit über die neuen Kleider des Kaisers.

Und die Wahrheit ist: Unsere Demokratie ist eine „marktkonforme Demokratie“. Nach Merkel ist diese Form der Demokratie erstrebenswert. Dabei ist die paradoxe Bedeutung des aus Ausdrucks niemandem bewusst. Ingo Schulze erklärt uns, was hinter diesem Ausdruck tatsächlich steckt: alle Gewinne werden privatisiert, was dem Gemeinwesen zugute kommt, sind die Schulden. Die neuen Grundsätze der „marktkonformen Demokratie“ sind es, die Arbeitskräfte für mehr Absatz in der Marktwirtschaft auszubeuten und das Wohlergehen der Wohlhabenden zu steigern. „Markt“ und „Demokratie“ sind ein Begriffspaar, das in keinem Zeitalter zusammengehören. Im Kern der Rede argumentiert Schulze, warum unsere Demokratie im Grunde keine ist. Er springt dazu ständig von der Märchenwelt in die Realität und wieder zurück.

Nicht noch eine Mauerfall-Erzählung

Schon in Simple Storys (1998) und Neue Leben (2005) kennen wir Ingo Schulze als ein Autor der Wendethematik. Dieses Mal versteckt er sich aber nicht hinter der Figur des Briefeschreibers oder hinter fiktiven Protagonisten, um Geschichten vom Ende der DDR zu erzählen. Die Rede entlarvt schonungslos den Zustand der Demokratie seit dem Mauerfall. Er nennt das Ende der DDR bei Namen (zum Beispiel Egon Kranz und Helmut Kohl), verweist auf historische Tatsachen und zieht Bilanzen, um den Leser fast mit einer Anhäufung von Informationen und Zahlen zu erschlagen. Aber er will den Leser nicht mit Zahlen ersticken, sondern diesem mitteilen, dass diese unsere heutige Welt eben definieren. Er möchte sie jedoch viel lieber mit Wörtern beschreiben. Das führt er vor, indem er gekonnt mit Wörtern und Bildern wie „Liebesdiener des Systems“ und „Unrechtsstaat“ jongliert. „Vergebliche Liebesmüh’“ ist auch so ein Begriff.

Keine Investition für jedermann

Der Bezug zur Märchenwelt regt den Leser ständig zum Nachdenken an. Der Leser kann sich gar nicht entspannt zurücklehnen, weil er ständig die zwei Welten vergleichen und Bilder entschlüsseln muss. Besonders Wirtschafts- und Politiklaien werden an vielen Stellen auf Verständnisschwierigkeiten stoßen. Das Buch ist definitiv keine Lektüre für einen gemütlichen Kaminabend.

Kapitalisten, Banker und Börsianer stecken ihre Investition lieber nicht in dieses Buch. Der Ertrag ist vorhersehbar und ist gleich Null. Denn Schulze macht den Kapitalismus zur Ursache von Verarmung der Allgemeinheit. Er will lediglich ansprechen, besser: aussprechen, warum er mit dem Zustand unserer Demokratie unzufrieden ist. Alle, die nicht im Bewusstsein sind, wie die Spekulation mit Nahrungsmitteln oder Argrarsubventionen die Demokratie in den Ruin stürzen und Hungernde noch hungriger machen, sollen dieses Buch auf die Liste „Als nächstes zu Lesen“ setzen.

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Gesprächs-Schnipsel

Was ist los bei den Karlsruher Gesprächen? Lesen Sie hier die Impressionen, Bemerkungen, Nettigkeiten und das Getuschel von der Veranstaltung am 14. bis 16. Februar 2014.


Über die vielen interessanten Gesprächspartner glatt die Gaumenfreuden verpasst, fast dehydriert und am Ende von der Putzkolonne raus gekehrt worden…gerade nochmal gut gegangen, die 18. Karlsruher Gespräche.

Ein hohes Durchschnittsalter unter den Besuchern der Podiumsdiskussion, obwohl das Thema eigentlich Jung und Alt interessieren sollte. (Robert)

Bei der szenischen Lesung des Stücks “Hohe Auflösung” im Staatstheater ist so gut wie kein Stuhl frei geblieben. Stimmung: Gespannt. (Konstantin)

König der Herzen und Lachmuskeln: Medienkünstler Hasan Elahi, führte anhand seines ‚digital body’ auf amüsante Weise die Paradoxie der totalen Transparenz im Netz vor – via Skype!

Ein so heikles Thema wie die politischen Umbrüche auf so eine humoristische Weise anzugehen ist, ja lustig. Ohne den Kern der Sache aus dem Blickpunt zu verlieren. „Hohe Auflösung“ (Konstantin)

Viel Meinung und Schlagabtausch, kein eindeutiges Ergebnis beim Symposium. Waren die Zuhörer so schlau wie vor den Vorträgen? Viele fragende Gesichter besonders bei den älteren Herrschaften. (Ümmü)

Gruselgänsehaut und quälende Stille bei Taslima Akhters bildgewaltiger Anklage der Missstände in Indiens Textilfabriken. (Sannah)

Die anschließende Diskussion an die szenische Lesung gestalten sich etwas langatmig. Den Teilnehmer gelingt es nicht unbedingt prägnante Fragen zu stellen. Durch die Übersetzung wird es dann kompliziert. (Konstantin)

Das Buffet war traumhaft lecker. Der Nachtisch ging innerhalb 10 Minuten aus. (Ümmü)

Simultanübersetzung schön und gut. Blöd nur, wenn man den Referenten ohne folgen will, aber durch die voll aufgedrehten Kopfhörer der anderen Besucher dennoch dazu gezwungen wird… (Sannah)

Auch wenn wetterbedingt ein Referent in den Staaten bleiben musste, konnte via Skype dennoch der Vortrag gehalten werden. Danke an die kompetente und zuverlässige Technik, die für einen reibungslosen Ablauf gesorgt hat. (Athanasios)

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Die Weltmarktgesellschaft

Die Welt ist ein Ladentisch, es wird gehandelt, gefeilscht und verhökert. Die Waren sind längst nicht nur Dinge, sie sind zunehmend digital und leider auch menschlich. In Karlsruhe reden Experten über den globalen Handel mit Waren, Daten und Menschen.

Was haben wir in der Hand? 18. Karlsruher Gespräche über den Weltmarkt
Was haben wir in der Hand? 18. Karlsruher Gespräche über den Weltmarkt

Wir wohnen im globalen Geschäft, der Laden ist geöffnet, Sonderverkauf rund um die Uhr, das Leben ein Import-Export und zwischendurch mal ein schlechtes Gewissen, mal eine Nachhaltigkeitskampagne, etwas an die Menschen, die Umwelt denken, Ohrringe im Eine-Welt-Laden kaufen und Fair Trade-Bananen verspeisen und weiter geht’s. Wir sind Weltmarkgesellschaft. Doch was bedeutet das eigentlich? Wie beeinflussen uns grenzüberschreitende Marktmechanismen? Geht es uns mit der Globalisierung besser oder schlechter?

Das fragen die 18. Karlsruher Gespräche „Die Welt(markt)gesellschaft. Vom Handel mit Waren, Daten und Menschen“ vom 14. Bis 16. Februar 2014. Internationale Wissenschaftler, Kulturschaffende und Experten unterschiedlicher Disziplinen treffen sich in Karlsruhe um die Schattenseiten, die Chancen und die Herausforderungen des allumfassenden Handels mit Waren, Daten und Menschen zu diskutieren.

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